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Die Endentscheidung bleibt beim Volk

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Am 31. Oktober wählen auch die Schweizer ihren Nationalrat. Dieses Mal wählen nicht nur die Schweizer — und darin unterscheidet sich diese Wahl von allen früheren —, sondern auch die Schweizerinnen. Noch im Jahr 1959 hatten die Schweizer, also die Männer, das Frauenstimmrecht mit überwältigender Mehrheit abgelehnt; im Vorjahr haben sie es mit einęr noch größeren Mehrheit angenommen und nehmen es schon als Selbstverständlichkeit hin, was für die geistige Beweglichkeit der angeblich so immobilen Nachbarn Österreichs spricht.

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Am 31. Oktober wählen auch die Schweizer ihren Nationalrat. Dieses Mal wählen nicht nur die Schweizer — und darin unterscheidet sich diese Wahl von allen früheren —, sondern auch die Schweizerinnen. Noch im Jahr 1959 hatten die Schweizer, also die Männer, das Frauenstimmrecht mit überwältigender Mehrheit abgelehnt; im Vorjahr haben sie es mit einęr noch größeren Mehrheit angenommen und nehmen es schon als Selbstverständlichkeit hin, was für die geistige Beweglichkeit der angeblich so immobilen Nachbarn Österreichs spricht.

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Es wäre jedoch falsch, zu erwarten, daß nun am 31. Oktober die ganze Schweizer Bevölkerung zu den Urnen wandern wird. Man wird in der Eidgenossenschaft wohl recht zufrieden sein, wenn sich zwei Drittel der Wahlberechtigten an der Wahl beteiligen werden. Bei den Wahlen des Jahres 1943 haben noch 75 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben; seither ist die Wahlbeteis ligung ständig gesunken, was manchen Schweizern Sorge bereitet. Nun liegt in Österreich die Wahlbeteiligung bei 90 Prozent und man könnte annehmen, daß hier die staatsbürgerliche Gesinnung verbreiteter ist als in der Schweiz. Das wäre jedoch ein Trugschluß: Hohe Wahlbeteiligung allein ist selten ein Kennzeichen besonderen politischen Verantwortungsbewußtseins, sondern zumeist Ergebnis des Druckes, dem der Wähler psychisch oder physisch von seiner Umwelt ausgesetzt ist. Die höchste Wahlbeteiligung weisen daher totalitäre Staaten auf — in freien Staaten gehen die, die sich für Politik nicht interessieren einfach nicht wählen. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist die Wahlbeteiligung zumeist noch geringer als in der Schweiz, was vielleicht darauf zurückzuführen ist, , daß der , amerikanische Wähler sich zumeist nur zwischen zwei Möglichkeiten zu entscheiden hat; über mangelnde Auswahlmöglichkeiten können. sich hingegen die Eidgenossen nicht beklagen, weil zumindest neun Parteien um ihre Stimme werben.

Das Datum des Wahltags ist in der Schweiz, und da ist die Schweiz ganz anders, gesetzlich verankert: Gewählt wird in jedem vierten Jahr am letzten Sonntag im Oktober. Weder das Staatsoberhaupt — und als solches ist der „Bundespräsident“ in der Schweiz kaum zu bezeichnen, weil er lediglich der für ein Jahr gewählte Vorsitzende der Bundesregierung ist — noch die Regierung, noch die Mehrheit des Nationalrates können die gesetzgebende Körperschaft vorzeitig auflösen und zu dem ihnen günstig erscheinenden Zeitpunkt Wahlen ausschreiben. Eine solche gesetzliche Fixierung des Wahltages erscheint vor allem gegenüber der Opposition fair, da sie gegen Überrumpelung durch willkürlich provozierte Wahlen gefeit ist. Auch in den Vereinigten Staaten ist der Wahltag ein für allemal durch das Gesetz bestimmt — es läßt sich heute schon sagen, an welchem Tag etwa im Jahre 1994 gewählt wird. Eine solche Regelung kann aber auf andere Staaten nicht übertragen werden. Es darf aber auch nicht übersehen werden, daß weder die Schweiz noch die USA klassische parlamentarische Demokratien sind. In Staaten, in denen die Regierung auf das Vertrauen der Mehrheit der Volksvertretung angewiesen ist, muß es eben möglich sein, Wahlen vor Ablauf der gesetzlichen Wahlperiode abzuhalten, wenn dies die Mehrheit der Volksvertretung für notwendig erachtet.

Daß die Schweizer Demokratie wesensverschieden von den übrigen europäischen Demokratien ist, wird auch von den Politikern übersehen, die, wie einst Pittermann und in letzter Zeit vor allem die beiden Krainer, vorgeschlagen haben, daß der Regierungsproporz in Österreich eine Institution werde, wie er es eben in der Schweiz schon lange ist. Man sollte sich da nicht auf das Vorbild der Schweiz berufen! Erstens kennt die Schweiz den Proporz nicht als arithmetische Grundregel, wie er etwa in den österreichischen Landesverfassungen verankert ist und in der Bundesregierung zur Zeit der großen Koalition gehandhabt wurde; und er ist keineswegs eine historische . oder gar verfassungsmäßige Einrichtung der Eidgenossenschaft.

Richtig ist, daß sich die Regierung der Schweiz, Bundesrat genannt, seit vielen Jahren aus mehreren Parteien zusammensetzt. Die Verfassung stammt zwar aus dem Jahre 1848 und wurde 1874 revidiert, aber bis zum Jahre 1891 besetzte die liberale Freisinnige Partei alle sieben Sitze in der Regierung. Dann wurde ein Sitz an die Katholisch-Konservative Partei abgegeben. Nach dem ersten Weltkrieg zog der zweite Katholisch- Konservative in den „Bundesrat“ ein — es stand da also 5:2. Mandatsmäßig standen sich damals 60 Freisinnige und 41 Konservative gegenüber, also war die Arithmetik vernachlässigt worden. Die ebenfalls 41 Mandate starke sozialistische Partei und die 29 Abgeordneten der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), einer Berner Mittelstandspartei, waren in der Regierung nicht repräsentiert. Im Jahre 1929 gab der Freisinn einen Sitz an die BGB ab. Der Eintritt des ersten Sozialisten und damit die Aufgabe der freisinnigen Regierungsmehrheit erfolgte erst im zweiten Weltkrieg, im Jahre 1943. Im Jahre 1959 wurde der zweite Sozialist in die Regierung aufgenommen und damit die „Zauberformel“ 2:2:2:1 gefunden. Es sind nun tatsächlich alle größeren Parteien in der Regierung vertreten; lediglich der „Landesring der Unabhängigen“, der mit seinen 16 Sitzen knapp unter der Repräsentation der BGB — 21 Sitze — bleibt, stellt die Opposition dar.

Es heißt jedoch die schweizerische Demokratie verkennen, wenn man annimmt, daß die Regierungsparteien Koalitionsparteien im österreichischen Sinn seien. Es gibt keine Regierungserklärung und kein Regierungsprogramm. Die Parteien fühlen sich nicht für die Regierung verantwortlich und stimmen oft die Vorschläge der Regierung nieder; die Regierung zieht daraus keine Konsequenzen und tritt nicht zurück. Die Regierung wird wohl nach jeder Nationalratswahl neu bestellt, doch finden Änderungen auf Grund des Wahlergebnisses nicht statt. Es ist In der Geschichte der Schweiz sehr selten vorgekommen, daß ein Mitglied der Regierung gegen seinen Willen wieder abgesetzt wurde; ein Minister scheidet also nur durch Rücktritt oder Tod aus dem Kreis der Regierung aus. Bei der Bestellung seines Nachfolgers spielen neben der Parteizugehörigkeit auch andere Faktoren eine ausschlaggebende Rolle: so sollen die Kantone Bern, Zürich und Waadt jedenfalls in der Exekutive vertreten sein; es soll aber auch Rücksicht auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den sprachlichen und religiösen Bevölkerungsanteilen genommen werden.

Die schweizerische Vielparteienregierung beruht auf freiwilliger Vereinbarung oder, wie die Schweizer sagen, auf Konkordanz. Erst in diesem Wahlkampf schlägt die Katholische Partei vor, daß sich die Parteien, die an der Regierung teilnehmen, auch verpflichten sollten, die Regierung dann im Nationalrat zu unterstützen. Ob das zielführend ist, muß dahingestellt bleiben — denn auch die Parteien können in der Schweiz eine Gesetzgebung, die den Vorstellungen der Regierung entspricht, nicht garantieren, da die Endentscheidung beim Volk bleibt, das durch Abstimmungen vom Nationalrat genehmigte Gesetze verwerfen kann und es auch häufig tut.

Für die Gelassenheit und Sachlichkeit, mit der unsere Schweizer Nachbarn in den Wahlkampf treten, sprechen folgende Gründe:

1. Der Wahlausgang ist für die Zusammensetzung der höchsten Verwaltungsorgane nur selten von Bedeutung.

2. Die Gesetzgebung verbleibt beim Volk, beim Souverän, das durch das Referendum von der Volksvertretung beschlossene Gesetze verwerfen und auch selbst Initiative zu Verfas- sungsgesetaen ergreifen kann; seit Einführung letzteren Volksrechts im Jahre 1891 sirld allerdings hur siebėh von insgesamt genau 100 ergriffenen Initiativen in Volksabstimmungen angenommen worden.

3. Allen Parteien in der Schweiz ist die bei uns vorherrschende Lagerideologie fremd. Die Unterschiede zwischen den Parteien sind auch in der Schweiz nicht zu übersehen, aber es fehlen die Schützengräben und Drahtverhaue. Man hat über die Parteien der Schweiz gesagt, daß nur eine von ihnen liberal mit großem Anfangsbuchstaben ist, aber alle dieses Adjektiv führen können.

Die historische Toleranz ergibt sich vor allem aus der Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens der Schweiz. Die kantonalen Grenzen verlaufen anders als die religiösen, sprachlichen und sozialen. Gerade in diesen Tagen müssen wir in Nordirland erkennen, wie die Gegensätze sich potenzieren, wenn religiöse und soziale Differenzen zusammenfallen. Das ist in der Schweiz eben nicht der Fall: So sind von den fünf vorwiegend französischen Kantonen, der sogenannten „Romandie“, drei reformiert und zwei katholisch; von zwanzig deutschsprachigen Kantonen und Halbkantonen sind acht reformiert, sieben katholisch und fünf konfessionell gemischt. Innerhalb der Kantone gibt es Gebirge und Flachland, agrarische und industrielle Interessen. Es gibt also eine Vielfalt von Kraftfeldern, die sich dauernd überschneiden — der durchschnittliche Schweizer gehört daher stets irgend- ‘ einer Minderheit an.

Am 31. Oktober werden 200 Nationalräte gewählt, wobei jedoch Schweizer Nationalrat sein kein Beruf ist und er außer bescheidenen Taggeldern kein Einkommen aus seiner politischen Tätigkeit bezieht. Es ist erstaunlich, welche Beharrlichkeit die Zusammensetzung des Nationalrats der Schweiz in den letzten Jahrzehnten aufweist: In keinem der Wahlgänge seit 1931 haben die Freisinnigen (Liberalen) mehr als 52 und weniger als 47 Mandate erhalten; die Katholisch-Konservative Partei war nie durch mehr als 48 und nie durch weniger als 42 Abgeordnete, die Sozialisten waren nie durch mehr als 56, nie durch weniger als 45 Abgeordnete repräsentiert. Das restliche Viertel verteilt sich auf sechs weitere Parteien, von denen die BGB, wie bereits ausgeführt, 21 und der Landesring 16 Sitze innehat. Als neue Partei tritt diesmal die „Nationale Aktion für Volk und Heimat“ des „wilden“ Nationalrats Schwarzenbach auf, dessen Initiative gegen die angebliche Überfremdung durch Gastarbeiter noch in Erinnerung ist.

In der Schweiz bildet jeder Kanton einen Wahlkreis. Die Mandate werden den Kantonen auf Grund des Bevölkerungsanteils, wobei nicht nur Kinder, sondern auch ansässige Ausländer mitgezählt werden, zugeteilt. Grundsätzlich besteht zwar Verhältniswahlrecht, doch kommt es in den Kantonen, die nur einen oder zwei Nationalräte wählen, nicht ins Spiel. Auf Grund der Volkszählung 1970 sind in der Schweiz fünf Nationalräte aus Kantonen mit relativem Bevölkerungsschwund in Kantone mit steigendem Bevölkerungsanteil gewandert; so hat der Kanton Bern, in dem sich die Hauptstadt befindet, zwei Nationalräte eingebüßt. Die Neuverteilung der Sitze und die Tatsache, daß ungefähr 60 Prozent der Wähler an der vorigen Wahl nicht teilgenommen haben — Frauen und Jungwähler —, mag wohl einige Veränderungen in der Zusammensetzung des Nationalrates in der Schweiz ergeben, einige Farbtöne werden verschieden sein, aber das politische Bild der Schweiz wird auch weiterhin von Toleranz, Wohlstand und Ruhe geprägt sein.

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