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Die Ent-Lagerung schreitet voran
Vorboten der Verschiebung des Parteiengefüges sitzen schon in einem Landtag. Alte Parteibindungen verlieren an Bedeutung. Wird Demokratie deshalb qualitätvoller?
Vorboten der Verschiebung des Parteiengefüges sitzen schon in einem Landtag. Alte Parteibindungen verlieren an Bedeutung. Wird Demokratie deshalb qualitätvoller?
Ein Syndrom ist immer mehr als man glaubt, daß es ist. Und jetzt wird auch das immer mehr: Das Grün-Syndrom der österreichischen Innenpolitik wurde - auf bewährt pathologisierende Art — zum Kaspanaze-Syndrom umbenannt.
Damit einher geht ein Verschwimmen der parteipolitischen Grenzen, ein Vermischen von po-
litischen Inhalten, ein Ausgrenzen von Abtrünnigen.
Einiges davon kennen wir bereits. Cap und Blau durften in ihrer rot-grünen Plattform nicht ganz so, wie sie wollten, Mock vergattert den VP-Parlamentsklub, Karas und Nenning denken anders über Hainburg als ihre Parteien — und tun dies sogar gemeinsam.
Akademisch wird die Transformation des österreichischen Parteiensystems schon länger diskutiert. Prophetisch wird einer grünen Welle das Wort geredet, die aber trotz allem bisher kaum die Drei-Prozent-Hürde (etwa bei den Nationalratswahlen 1983) geschafft hat.
Das wird sich ändern, und die Veränderung hat schon begonnen. Der im internationalen Vergleich überaus hohe Konzentrationsgrad der beiden Großparteien SPÖ und OVP (der etwa im Jahr 1975 seinen Höchststand erreichte, als 93,4 Prozent der Wähler für die Großparteien stimmten) entwik-kelt sich derzeit wieder in die Gegenrichtung (1983 wählten nur mehr 90,9 Prozent SPÖ und ÖVP).
Anders herum bedeutet dies, daß der Stimmenanteil der anderen wahlwerbenden Parteien momentan bei rund neun Prozent liegt (1959 lag der Anteil der Kleinparteien bei elf Prozent, 1949 gar noch bei 17,3 Prozent).
Die Vorboten dieser Verschie-
bung im Parteiengefüge sitzen schon in einigen Stadtparlamenten (Graz, Innsbruck, Salzburg) und neuerding auch in einem Landesparlament (Vorarlberg).
Die Vertreter der Alternativgruppen, neuer Interessengemeinschaften oder Bürgerinitiativen signalisieren — neben einem neuen politischen Stil — vor allem eines: den allmählichen Ausbruch aus der Lagermentalität, die politische Ent-Lagerung Österreichs.
Ob aber daraus eine Ausweitung der Lager entsteht oder das Lagerdenken überhaupt verschwindet, bleibt dahingestellt. Denn bis heute waren die Uberle-
bensjahre von vierten Parteien (— die nicht identisch sein müssen mit politischen „Lagern") in Österreich stets sehr begrenzt: O Der Kommunistischen Partei gelang es — trotz antifaschistischer und staatsgründender Start- und Standbeine — nicht, diese im Parlament zu behalten: 0 Auch die Demokratisch-Fortschrittliche Partei Franz Olahs, ein zur Partei gewordener Protest des früheren Gewerkschaftsbund-Präsidenten und SP-In-nenministers, war nicht allzu lange im Blickfeld des Parteiestablishments. Und warum sollte es bei den
Grün-Alternativen plötzlich anders sein?
Es gibt Unterschiede: Zum einen treten die Grün-Alternativen primär nicht als Parteien in Erscheinung. Sie sind vielmehr das zunehmend formalisierte (und von Organisationsproblemen geplagte) Endprodukt eines vielschichtigen und spezialisierten Bürgerprotests.
Dazu kommt ein gesellschaftlicher Hintergrund, für den das Maturazeugnis und die Indifferenz gegenüber politischem Personenkult ausschlaggebend sind. Aufgeklärtes Bürgerselbstbewußtsein kommt ohne die Schminkkoffer der TV-Politik aus.
Deshalb wird die Frage, ob aufgrund der Entwicklung neue politische Kräfte, Lager oder Parlamentsklubs entstehen, langsam überflüssig. Dann nämlich, wenn der Blick auf eine Grundfrage der Demokratie frei wird:
Werden in Zukunft, trotz zunehmend irreversibler Entscheidungen - etwa im Energie-, Raumplanungs-, Medizin- und Kommunikationsbereich —, der Schutz von Minderheiten und die Umkehrbarkeit von Entscheidungen (beides Grundvoraussetzungen der Demokratie) noch möglich sein?
Oder wird die ausufernde (technologische) Komplexität (mit zum Teil irreversiblen, potentiell destruktiven Konsequenzen) den dominierenden Platz in unserem politischen System einnehmen, dem sich wiederum alle beugen müssen oder dem nur sehr unterschiedliche und verstreute Bürgerinitiativen Einhalt gebieten?
Anders gefragt: Wird es gelingen, der Entwicklung vom Staatsbürger zum „Partisanen gruppenegoistischer Besonderung" politische Grenzen zu setzen, indem alternativ-grüne Bestrebungen und Bewegungen in Parlament und in die Parteien integriert werden?
Die bereichs-, berufs- und betroffenheitsspezifische Ausprägung von zivilem Ungehorsam (gegen Flughafenlärm, für Behinderte, Alte und Arbeitslose, für die Erhaltung von Natur und Umwelt) wirkt tiefer.
Für das politische Establishment bedeuten die Indikatoren einer parteipolitischen Ent-Lagerung: das Auftauen ererbter Parteipräferenzen, die Differenzierung des Parteiensystems insgesamt, die Bereicherung politischer Gebräuche und die Belebung politischer Diskussionen und Entscheidungsvorgänge.
Das alles spielt sich ab in einer Durchgangsphase zu einem noch viel drängenderen Problem der Demokratie: nämlich ob aus der derzeitigen Entwicklung eine tiefer wirkende Dezentralisierung politischer Entscheidungen entsteht, hin zu mehr lokaler Substanz und invidueller Subsistenz, oder ob die momentanen Strömungen bloß zu einer „Miniaturisierung des Lobbyismus" führen.
Der Autor ist wissenschaftlicher Assistent am Osterreichischen Institut für politische Bildung in Mattersburg und Lektor an der Universität Graz.
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