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Die Erfahrung der Hinfälligkeit

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Im Schatten von Allerheiligen lehrt uns der 2. November: Geschichte „gegen den Strich“ zu lesen, dem Tod ins Auge zu sehen und nach dem Sinn des Lebens zu suchen.

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Im Schatten von Allerheiligen lehrt uns der 2. November: Geschichte „gegen den Strich“ zu lesen, dem Tod ins Auge zu sehen und nach dem Sinn des Lebens zu suchen.

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Wenn überhaupt die ersten beiden Novembertage im Bewußtsein der Öffentlichkeit und auch im Denken der Christen noch lebendig sind, so steht der 2. November (Allerseelen) doch weithin noch einmal im Schatten jenes mächtigen Lichtes, das die Erinnerung der Kirche an ihre Heiligen gibt.

Allerheiligen: freilich auch das Fest all jener anonym-stillen Heiligen, die als Namenlose in keine Kalender und Litaneien eingegangen sind und von denen die Kirche dennoch weiß, daß ihr Leben ihr Ziel gefunden hat. Die Kirche kennt viele Heilige, während sie doch über niemand den Verdammungsspruch gefällt hat. Wenn in der gelungenen „Gesamttat des Lebens“ der Heiligen auch eine „viva lectio evangelii“ zur Erscheinung gekommen ist,

die motivierende Kraft für den Glauben anderer besitzt, so darf dieser Glanz aber doch nicht verdunkeln, daß Allerseelen anderes und mehr als der verlegen-pietätvoll beigefügte bloße Anhang zu Allerheiligen ist. Und doch: Allerseelen — Gedächtnis der Toten; aber ein Fest?

„Wie wir in Liebe Verstorbener gedenken“ heißt eine der bedeutendsten Reden Sören Kierkegaards, in der diese Liebe zum eigentlichen Prüfstein wahrer Liebe wird: „Wahrlich, willst du dich recht vergewissern, was von der Liebe in dir oder einem anderen Menschen sei, so achte nur auf das Verhalten gegen einen Verstorbenen ... Denn ein Verstorbener ist ein hinterlistiger Mann; er hat sich wirklich ganz aus der Sache gezogen, hat nicht den mindesten Einfluß, der seinem Gegenüber, dem Liebenden, hinderlich oder förderlich wäre... Daß wir in Liebe Verstorbener gedenken ist eine Tat der uneigennützigsten Liebe.“

Welche Zeit des Jahres böte besser Gelegenheit für Kierkegaards Einspruch gegen Standards und Normen eines gesellschaftlichen Bewußtseins, dem die bloße (wenn auch steigerungsträchtige) Reproduktion des Lebens schon zu genügen vermag und das als tragend-bestimmendes Moment zwischenmenschlicher Beziehungen — bestimmt durch das genau wägende Kalkül des Tausches — nichts anerkennt und gibt ohne Äquivalente (Theodor Adorno). Bezeichnend und paradox genug, daß erst das die Herrschaft dieses Tauschprinzips sprengende „liebende Andenken an einen Verstorbenen“ sich auch gegen die Wirklichkeit stellen soll, „daß diese durch neue Eindrücke nicht zu mächtig werde und das Andenken auslösche; es hat sich auch gegen die Zeit zu wehren; kurz, es darf sich nicht zum Vergessen nötigen lassen und muß sich die Freiheit erkämpfen, liebend an der Erinnerung festzuhalten ... Gewiß ist niemand so hilflos wie ein Verstorbener.“

Hilflos freilich auch noch der Tote, der allein auf unser Erinnern angewiesen ist...

„Allerseelen-bestimmtes“ Bewußtsein weiß als provozierend-protestierendes Erinnern aber insbesondere um die Hilflosigkeit und Verlassenheit derer, „die keinen Anteil am Leben haben“ (Johann Heinrich Pestalozzi) - und auch jener, die, unbeachtet und vergessen, einen solchen Anteil am Leben nie hatten, deren

„Funktion“ sich vielmehr darin erschöpfte—aller christlichen Rede vom unendlichen Wert jedes Individuums zum augenscheinlichen Hohn — in einem geschichtlichen „Verwertungsprozeß“ als Wasserträger des Fortschritts überrollt zu werden und — vorwärts, über Gräber hinweg! — als Abfall einer bloßen Siegergeschichte zu fungieren: das Los all jener Zahl- und Namenlosen, die mit ihren „banalen“ Schicksalen weder in Geschichtsbüchern noch in Ortschroniken Platz gefunden haben.

Entgegen einer der „monumentalen Historie“ entsprechenden bloßen „Einfühlung in die Sieger“ (Walter Benjamin) und deren

„Verachtung“ der von ihr zwar Betroffenen (wenn auch nicht Gemeinten) formuliert Allerseelen doch auch ganz wesentlich die kritisch-heilsame Provokation, Geschichte gewissermaßen „gegen den Strich“ zu lesen und will so zu einem „Eingedenken“ an alle Toten aufrufen, das sich freilich als „anamnestische Solidarität“ von Menschen erst noch zu bewähren hat — von Menschen, die dann aber auch nicht vergessen, daß sie

selbst und ihr „Glück“ noch auf den gebeugten Schultern der Toten und deren uneingelösten Hoffnungen ruhen, die selbst Opfer der Schlachtbank der Weltgeschichte oder auch nur „banaler“ Schicksale geworden sind.

Allerseelen ist so in einem auch der sich gegen alles resignativ-trostlose Verstummen erhebende Ruf nach dem „Wort der Gerechtigkeit“ wie auch das protestierende „Wort des Widerstandes gegen jeden Versuch, den immer wieder ersehnten und gesuchten Sinn menschlichen Lebens einfach zu halbieren und ihn allenfalls für die jeweils Kommenden, die Durchgekommenen, gewissermaßen für die glücklichen Endsieger und Nutznießer unserer Geschichte zu reservieren.“ (Synodenpapier „Unsere Hoffnung“)

Freilich wußte nicht nur Ernst Bloch um die fatale Situation auch dann: „Totentanz herrscht noch am schönsten irdischen Ort“...

An denkwürdigem Ort im Gang durch das Jahr.steht Allerheiligen-Allerseelen: fällt es doch in jene Zeit des Jahres, in der schon ein Blick in die Natur den Menschen unvermeidlich auch an sein Schicksal gemahnt. Immer wieder wurde das Kommen und Gehen der Menschengeschlechter mit dem Los der Blätter des Waldes und der Reihenfolge der Blü-' ten verglichen - deren man sich freut, ohne allerdings in diesem Kreislauf der Natur den Verlust derjenigen zu bedauern, die verwelkt sind — ein Unterschied freilich, über den auch gehobene Sprache nicht hinwegtäuschen kann. Es führt damit den Menschen, dem in seiner unverwechselbaren Individualität seiner Person weder das „Schicksal“ der Natur noch ein Weiterleben in seiner biologischen Art zu genügen vermag, doch schonungslos vor die Bodenlosigkeit und Abgründigkeit seiner Existenz.

Allerseelen ist zugleich damit aber doch auch die Weigerung, die hier radikal zutage tretenden Erfahrungen der Hinfälligkeit und Ausweglosigkeit verschweigen oder auch nur durch trostvoll-erbauliche und doch verharmlosende Euphemismen glätten zu wollen. Wenn das Jahr der Natur als seine letzte Antwort sein düsterdunkles Grau in Grau malt — bringt es so nicht noch einmal den mit dem Werk seiner Erlösung nicht nur allein gelassenen, sondern darin auch prinzipieller Trostlosigkeit verhafteten Menschen - und in ihm das Ganze der Wirklichkeit - unausweichlich vor sich selbst?

Scheint es doch für den nüchternen Blick um des Menschen Los so bestellt zu sein, daß auch er, ungeachtet seiner Humanität und Würde, „dennoch durch die Natur, die darauf nicht achtet, allen Übeln des Mangels, der Krankheiten und des unzeitigen Todes, gleich den übrigen Tieren der Erde, unterworfen sein und es auch immer bleiben“ wird, „bis ein weites Grab sie insgesamt... verschlingt, und sie, die da glauben konnten, Endzweck der Schöpfung zu sein, in den Schlund des zwecklosen Chaos der Materie zurückwirft, aus dem sie gezogen waren.“ (Kant)

Allerseelen: ein zur Trauer mahnender, düsterer und lediglich aus Gründen der Pietät zu ertragender Gedenktag also, der die Hast des Lebens an dessen Zerbrechlichkeit und Kürze erinnert, und als eher peinliche Unterbrechung des alltäglichen Dahin-gangs der Zeit allenfalls ein mehr flüchtig-verdrossenes als tiefsinniges „Memento mori!“ entlockt, aber — welch ein Widersinn! — gar ein Fest, das nicht nur Gedächtnis der Toten, sondern das ja nur dort wirklich sein soll, „wo Liebe sich freut“ (Chrysostomos)?

Es ist in der Tat ein merkwürdiges Fest in denk-würdiger Zeit des Jahres; ist Allerheiligen-Al-

lerseelen doch auch eigentlich das letzte Fest des Kirchenjahres, das so die Zeit, die Geschichte und den in ihr lebenden, allein auf sich selbst gestellten und bezogenen Menschen an jene Schwelle führt, die das aus der Erfahrung der Nichtigkeit und Abgründigkeit seines Daseins erwachsene betroffene Schweigen und Verzweifeln allein in ein Horchen und Rufen verwandeln kann. Ein Horchen auf und Rufen nach jener Wirklichkeit, in deren Hand unser aller Schicksal — und damit auch die Namen der Namenlosen — geschrieben ist.

Es ist so das die „Fülle der Zeit“ er-innernde Horchen und Rufen nach jenem Ereignis, daß der alle Partikularitäten und menschlichen Maßstäbe — nicht zuletzt auch diejenigen betreffend Gerechtigkeit, Gnade, Verdienst, Erwählung und Verwerfung — sprengende, alles umgreifende und haltende Mensch gewordene Gott in seinem Sohn allein es ist, der in den Maßstäben seiner neuen Gerechtigkeit Anteil am Leben Gottes gewährt; es ist jener Geist des Vergangenheit und Zukunft umfassenden, in der Fülle der Zeit in die Welt gesandten Sohnes, welcher uns auch ein nicht mehr bloß resignatives, sondern getrostes Ja zum allgemeinen Tod noch sagen läßt.

Getragen dann nicht mehr allein von dem adventlich-flehen-den Ruf: „Komm, Herr Jesus!“, sondern auch von der heilsamen Gewißheit, daß dieser Ruf münden darf in den jubelnden Dank des Weihnachtsliedes: „... rettet die Finsternis, wahr' Mensch und wahrer Gott, hilft uns aus allem Leide, rettet von Sünd' und Tod.“ Allerseelen — dann nicht auch Fest der Liebe, Hoffnung und Freude?

Dr. Rudolf Langthaler lehrt Philosophie an der Katholisch-theologischen Hochschule St. Pölten.

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