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Die erfolglosen Bürokraten

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Migrationen sind volkswirtschaftlich ein Faktum von großer Bedeutsamkeit, da eine effektive Nutzung der in einem Land vorhandenen Arbeitskraftreserven unter anderem wesentlich von der territorialen Verteilung dieser Reserven abhängt. Das gesamte Migrationsvolumen in der Sowjetunion ist ziemlich hoch. Im Jahre 1967 zum Beispiel wanderten 5,5 Millionen Menschen von Stadt zu Stadt, 3,1 Millionen zogen vom Land in die Städte. 1,5 Millionen wechselten von Städten aufs Land und einige Millionen übersiedelten innerhalb ländlicher Regionen. Das Ausmaß der Migrationen in einem Zeitraum von nur einem Jahr übersteigt also weit die Zehnmillionengrenze.

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Migrationen sind volkswirtschaftlich ein Faktum von großer Bedeutsamkeit, da eine effektive Nutzung der in einem Land vorhandenen Arbeitskraftreserven unter anderem wesentlich von der territorialen Verteilung dieser Reserven abhängt. Das gesamte Migrationsvolumen in der Sowjetunion ist ziemlich hoch. Im Jahre 1967 zum Beispiel wanderten 5,5 Millionen Menschen von Stadt zu Stadt, 3,1 Millionen zogen vom Land in die Städte. 1,5 Millionen wechselten von Städten aufs Land und einige Millionen übersiedelten innerhalb ländlicher Regionen. Das Ausmaß der Migrationen in einem Zeitraum von nur einem Jahr übersteigt also weit die Zehnmillionengrenze.

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Die wichtigsten Ergebnisse dieser Wanderungen waren ein deutliches Anwachsen der städtischen Bevölkerung sowie die Neubesiedlung von Entwicklungsgebieten hauptsächlich in Mittelasien und Sibirien. In den zehn Jahren von 1959 bis 1969 wuchs die Stadtbevölkerung um 36 Millionen, was 36 Prozent entspricht, während die Landbevölkerung um 3,1 Millionen (2,8 Prozent) abnahm. Das Anwachsen der Städte geht also vor allem auf eine starke Landflucht zurück. In Wirklichkeit ist der Anteil der Landbevölkerung am Zuwachs der Städte sogar noch größer, da die ländlichen Zuwanderer meist junge Leute sind, die bald Familien gründen und im Durchschnitt gebärfreudiger sind als die traditionelle Stadtbevölkerung.

Am größten ist die Landflucht in Zentralrußland, Weißrußland, der nördlichen Ukraine, in den baltischen Republiken und in Sibirien, während sich in den kaukasischen und asiatischen Republiken ein Ansteigen der Landbevölkerung beobachten läßt. Nun ist einerseits eine gewisse Landflucht in die Städte absolut nötig, um einen ständigen Produktionszuwachs zu gewährleisten. Anderseits verläuft diese Landflucht, volkswirtschaftlich gesogen, recht irrational, nämlich geradeaus jenen GeWftenTln fen'ett in der Landwirtschaft Arbeitskräftemangel herrscht. Andere Gebiete hingegen, etwa die südliche Ukraine, die Moldaurepublik oder Georgien, würden ohne weiteres eine zusätzliche Abwanderung vertragen. In diesem Zusammenhang ist auch zu betonen, daß der Anteil der Landbevölkerung in dn letzten zehn Jahren nur geringfügig zurückging und beträchtlich höher liegt, als in anderen hochentwickelten Ländern. Konstant gestiegen ist in den letzten Jahren auch der Frauenanteil an Beschäftigten, er liegt heute bei 50 Prozent. Von sowjetischen Soziologen wird dieser Anteil für zu hoch gehalten. Vor allem die extensive Frauenarbeit ist nach ihrer Meinung an der niedrigen Geburtenrate schuld, die auch ökonomisch negative Folgen haben wird: 1980 wird es bereits weniger Arbeitskräfte geben als 1970. In vielen sowjetischen Städten ist heute schon Arbeitskräftemangel spürbar.

Der Exodus der Landbevölkerung wird und muß aus diesen Gründen andauern, seine ökonomische Bedeutung wird sogar steigen, da die natürliche Zuwachsrate der Bevölkerung im Sinken begriffen ist. Der Hauptstrom der Landflucht führt in die Großstädte, die zwischen 500.000 und 2 Millionen Einwohner haben, sie wachsen viereinhalbmal so schnell wie mittlere und Kleinstädte. Im Jahre 1970 nahmen die 'Großstädte 56 Prozent allen Zuwachses auf und entsprachen 31 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dieser Zuwachs ist in Wirklichkeit noch größer, wenn man die Agglomerationen der Großstädte mit einbezieht. Heute gibt es in der Sowjetunion etwa 20 Agglomerationen, die mehr als eine Million Einwohner haben.

Die Konzentration der Stadtbevölkerung wird volkswirtschaftlich verschieden beurteilt: die sowjetische Administration tritt für ein beschränktes Wachstum der Großstädte ein, wobei sie sich auf das Argument stützt, daß die Pro-Kopf-Ausgaben für die Infrastruktur in Großstädten höher seien als in kleineren Städten. Volkswirtschaftler hingegen halten das System der „geschlossenen Städte“ (unter die Moskau, Leningrad oder Kiew fallen), für verfehlt und wirkungslos, da die ökonomi-

sche Effektivität von Großstädten etwa doppelt so hoch sei als die von Kleinstädten. Ihrer Meinung nach gibt es keine optimale Größe für eine Stadt, da Supergroßstädte ökonomisch eindeutig viel profitabler seien. Für sehr rentabel wird auch die

Neubesiedlung von Gebieten gehalten, in denen reiche Bodenschätze vorkommen, so die Besiedlung West-jakutiens, wo Diamanten abgebaut werden, Tschukotkas, wo es reiche Lager von Gold und Diamanten gibt,

oder des mittleren Ob mit seinen reichen Erdölquellen. Trotz des harten Klimas sei die Besiedlung dieser wirtschaftlich reichen Gegenden für das ganze Land von großer Bedeutung. Leider reduziert sich der Nutzen dieser Anstrengungen wegen falscher Entwicklungsmethoden. In der Sowjetunion geht man noch immer von dem Prinzip aus, jede Region müsse völlig autark sein. Die ganze benötigte Ausrüstung wird zu Uberpreisen an Ort und Stelle produziert, verschlingt wichtige Investitionskosten und bindet sinnlos viele Arbeitskräfte. Schädlich wirkt sich auch die chronische Vernachlässigung des Ausbaus der Infrastruktur aus, da sie eine große Fluktuation von Arbeitskräften und damit Kapital- und Zeitverluste hervorruft. Generell fand in den letzten zehn

Jahren eine Bevölkerungsverschiebung vom Norden in den Süden statt. Alarmierende Ausmaße weist vor allem der Exodus aus Sibirien auf: die Abwanderung aus Sibirien steigt ständig an. Da die Ausreisenden vor

allem junge Leute sind, sinkt auch die natürliche Zuwachsrate der sibirischen Bevölkerung. Da Sibirien innerhalb der UdSSR ein ökonomisches Entwicklungsland darstellt und als solches in besonders hohem Maße auf Arbeitskräfte angewiesen ist, interferiert diese Migrationsbewegung auf ziemlich schmerzhafte Weise mit den nationalen Interessen des Landes.

Staat und öffentliche Organisationen wenden hauptsächlich drei Kategorien von Mitteln an, um die territoriale Verteilung der Bevölkerung zu regulieren: ökonomische Methoden, organisatorische und administrative. Die Erfahrung zeigt jedoch, daß die Menschen einzig auf ökonomische Methoden reagieren, zum Beispiel auf eine territoriale Differenzierung der Löhne und abgestufte Sozialleistungen. Administrative Beschränkungen und Propagandafeldzüge hingegen erweisen sich auf längere Zeit als völlig wirkungslos. Besonders die Abwanderung aus Sibirien beweist, daß ökonomische Gründe ausschlaggebend sind — die Abwanderung erfolgt laut Umfragen hauptsächlich wegen des niedrigen Lebensstandards.

Um volkswirtschaftlich unerwünschte Migrationen zu vermeiden, müßten also vor allem Unterschiede im Lebensstandard eingeebnet werden. Da jedoch die empirische Soziologie und die Feldforschung in der

Sowjetunion lange Zeit zu den Stiefkindern der Wissenschaft zählten, gibt es heute kaum Daten über den Lebensstandard in den verschiedenen Regionen; weder sind die einzelnen Komponenten des Lebensstandards definiert, noch ist ihre optimale Höhe bestimmt. Im Unterschied zu den Planern unterscheidet die Bevölkerung selbst sehr exakt zwischen den Niveaugefällen des Lebensstandards in den verschiedenen Teilen des Landes und weiß recht genau Bescheid darüber, wo man besser und angenehmer lebt. Deshalb sind Migrationen — in die Städte und in den warmen, landwirtschaftlich reicheren Süden — ein sehr genauer Indikator für den Lebensstandard.

1966 wurden staatliche Komitees zur besseren Nutzung von Arbeitskräften gegründet und auch die kommunistische Jugendorganisation Komsomol befaßt sich mit der Rekrutierung junger Leute. Allerdings sind alle diese Anstrengungen zwecklos, solange sie nicht mit fundierten ökonomischen Maßnahmen gekoppelt werden. So förderte man jahrelang mit großem Aufwand die Zuwanderung nach Ostsibirien. Wegen des niedrigen Lebensstandards war aber die Abwanderung sehr hoch, besser wäre gewesen, man hätte die Kosten für Neuzuwanderer zur Hebung des Lebensstandards verwendet!

Aus all diesen Beobachtungen läßt sich die interessante Schlußfolgerung ziehen, daß selbst in einem zentralisierten, planwirtschaftlich gesteuerten Land viele Dinge völlig außerhalb der behördlich erfaßten und manipulierbaren Grenzen verlaufen, Weder ist die Einkommensstruktui des Landes statistisch erfaßt, noch weiß man Bescheid über die verschiedene Höhe des Lebensstandards, Die Bevölkerungmigrationen spielen sich nach ihren eigenen Gesetzen ab, sind trotz der rigorosen bürokratischen Beschränkungen offensichtlich nicht steuerbar und staatlichen Zielsetzungen nicht selten diametral entgegengesetzt. Und wenn sowjetische Ökonomen die Migrationen als wirtschaftlich nicht effektiv bezeichnen, so haben die Menschen offenbar ganz andere Vorstellungen davon, was für sie „effektiv“ ist. Der Planungsapparat ist zu schwerfällig, um mit dei Realität in Deckung gebracht werden zu können, und noch viel weniger ist Propaganda ein wirksames Instrument zur Lenkung langfristiger soziökonomischer Prozesse.

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