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Die erlebte Solidarität

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Noch nie waren die Probleme der Dritten Welt von größerer Aktualität als in unseren achtziger Jahren.

125 Länder, auf der südlichen Halbkugel verteilt, sind wie wunde Stellen und Schwären am Körper einer Welt, die von unbekannten Erschütterungen heimgesucht wird. Krisen des Erwachsenwerdens bei den einen, Krisen des Altwerdens bei den anderen, alle sind in Mitleidenschaft gezogen.

Die Länder der nördlichen Hemisphäre reagieren derzeit noch mit ihren im Wohlstand gesammelten Kräften und stützen sich auf ihre technologische Uberlegenheit. Die Länder des Südens hingegen haben oft nicht die Mittel, um der Krise standzuhalten, und verarmen in vielen Fällen immer mehr.

Alle Abhandlungen, alle Organisationen, alle Formen der Kooperationspolitik konnten mit dieser furchtbaren Realität nicht zu Rande kommen. Die Hälfte der Menschheit lebt in Armut, in Not und im Zustand der Unterernährung. Der Hunger in der Welt ist zu einem alltäglichen Thema geworden. Er findet seine wirkliche Dimension — das menschliche Antlitz des Leids — erst in den Augenblicken der großen Katastrophe wieder.

Aber die Soforthilfeaktionen, die Freigiebigkeit der Völker des Nordens, die sich mit plötzlich entflammtem Mitgefühl engagieren, um ein grausames Massensterben abzuwenden, sind der Größe der Herausforderung nicht gewachsen: denn man geht das Übel nicht an der Wurzel an, das heißt an der Unfähigkeit dieser

Landbevölkerungen, sich selbst zu ernähren.

Zwei neue Tatsachen verändern heute die Gegebenheiten des Nord-Süd-Dialogs, man sollte eigentlich sagen, der Nord-Süd-Konfrontation. Die Interdepen-denz zwischen den Ländern des Nordens und des Südens hat in so vielfältigen wirtschaftlichen und strategisch-militärischen Bereichen ihren Ausdruck gefunden.

Die Länder des Nordens beginnen, die Länder der Dritten Welt unter einem anderen Aspekt zu betrachten. Großzügigkeit und Gerechtigkeitssinn scheinen überholt, wenn nicht ganz ad acta gelegt. Die Kooperation beruht immer mehr auf einer erlebten Solidarität, wie sie vergleichsweise die Gliedmaßen ein- und desselben Körpers vereint.

Es gibt heute im Süden keinen Konflikt, keine wirtschaftliche Krise und keine sozialen Unruhen, deren Schockwellen nicht auch die Gebiete des Nordens erschüttern.

Die zweite Tatsache ist jüngeren Datums und hat sich noch nicht in ihrem ganzen Umfang enthüllt: sie besteht darin, daß sich in Lateinamerika, Asien und Afrika Bauerngruppen und Dorfgemeinschaften organisiert haben, um die Initiative zu ihrer Entwicklung selbst in die Hand zu nehmen.

Wohl handelt es sich noch um ein Minoritätsphänomen innerhalb der zwei Milliarden Bauern, die den eigentlichen Kern des Entwicklungsproblems bilden, doch ist es keine Randerscheinung mehr. Dieses Phänomen erstreckt sich mit den mehr oder weniger erigen Maschen seines Netzes über die immensen vergessenen oder vernachlässigten ländlichen Gebiete, die von Modernisierung und Fortschritt unberührt geblieben sind.

Diese Bauern, in Hilfsvereinen und Gruppen von Freiwilligen zusammengeschlossen, von Nichtstaatlichen Organisationen des Nordens beraten und unterstützt, starten und verwirklichen kleine Projekte, Mikroprogramme der Entwicklung in Landwirtschaft, Viehzucht, Gesundheitswesen, Hygiene, Unterricht und Berufsausbildung.

Die Ergebnisse sind oft bescheiden, Mißerfolge zuweilen unvermeidlich, und dennoch gewinnt diese Bewegung an Stärke. Eine regelrechte Revolution in der Entwicklung ist hier im Gange, eine stille Revolution. Die Revolution der Barfüßigen.

Die Bewegung greift um sich und verbreitet sich mit erstaunlichem Tempo in dieser angeblich langsamen und mißtrauischen ländlichen Welt, erfüllt sie mit neuer Hoffnung. Diese Kraft ist irreversibel und ihr Elan könnte unwiderstehlich werden.

Die Revolution der Barfüßigen ist eine friedliche Revolution. Wenn ihr aber zu viele Hürden, zu viele Hemmnisse in den Weg gestellt werden, kann niemand voraussehen, ob sich ihr Wesen nicht ändern würde. Die Dorfbewohner der Dritten Welt sind daran, zu begreifen, daß sie trotz ihrer Armut das Recht haben, jene Nahrungsmittel zu erzeugen, ohne die kein Mensch, ob reich oder arm, überleben kann. Die Schwachen entdecken, daß ihre Kraft in ihrer Zahl liegt.

Diese Fakten werden den bisherigen Entwicklungsbegriff radikal verändern. Sie werden ein ganzes Gedankengebäude erschüttern, das seine Versprechen nicht gehalten hat: die seit zwanzig Jahren praktizierte Entwicklungspolitik.

Sie werden bisherige Gewohnheiten umstoßen, zu folgenschweren Neubewertungen, zu einer Umverteilung der Karten führen. Die Rollen und der Auftrag der einzelnen Entwicklungspartner müssen neu definiert werden. Von nun an müssen Konzepte, Ziele und Maßnahmen neu formuliert werden, um dieser exakteren Analyse einer komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden.

Die Revolution der Barfüßigen erfordert seitens der Regierungen, der internationalen Institutionen und der Nichtstaatlichen Organisationen ein Umdenken, eine engere gegenseitige Abstimmung und ein Aktionstempo, das den Erwartungen in den Dörfern entspricht.

Ansonsten besteht die Gefahr, daß die Revolution der Barfüßigen sich radikalisiert und der Versuchung der Gewalt erliegt.

Aus: DIE REVOLUTION DER BARFUS-SIGEN. Ein Bericht an den Club of Rome. Von Bertrand Schneider. Mit einem Vorwort von Richard von Weizsäcker. Europaverlag. Wien 1986.

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