6936942-1983_13_14.jpg
Digital In Arbeit

Die Erleuchtungen des Herrn Siegl

Werbung
Werbung
Werbung

Filialleiter Siegl von der hiesigen Volksbank hat mich wegen der Personalkredite für ehemalige EBC-Mitarbeiter befragt: Ich sollte die Gekündigten doch kennen und ihn hiezu beraten. Wenn die Entlassungen wirklich nur befristet bis März 1983 ausgesprochen wurden, könne er über Weihnachten die Rückzahlungsraten aussetzen. Ich habe ihn bei der Wahl einer solchen Regelung bestärkt.

Nachher erzählte er, am Fenster seines Büros stehend, mehrmals von Telefonaten und anklopfenden Besuchern unterbrochen, von vier eigentümlichen privaten Zustößen, fast Schockerlebnissen, die ihm gänzlich schuldlos widerfahren seien, aber doch bedenk-

lieh erschienen; fast religiöse Entrückungen, Erleuchtungen, verzehrend, vor allem aber kompromittierende Einsichten mit erschreckend ungesicherten zwei-1 felhaften, ja angstvollen Folgerungen.

Diese vier Erkenntnisse seien ihm bei ganz profanen Vorgängen und Beobachtungen eingeschossen, ohne daß er auch nur im entferntesten an die Gleichnisse Jesu gedacht hätte. Er sei also ganz allein und von selbst zu genau den gleichen Erkenntnissen und Metaphern gelangt wie der Gründer seiner Kirche selbst! Er habe sich geprüft, ob das etwa unterbewußte Weiterverwendungen vertrauter Aussprüche wären, nur die Nutzanwendung der Herrenworte auf seine eigene Gegenwart. Aber nein, diese Erkenntnisse entstanden so fernab jedes religiösen Nachdenkens, außerhalb jeder Andacht oder Betrachtung, nur im inneren Umgang mit seinen eigenen, bedrängenden Bewußtseinsinhalten, daß er nicht ausschließen kann, sie wären ihm selbst, unmittelbar aus eigener Bedürftigkeit nach durchdringendem Verständnis, sinnfälligem Trost, auf alleiniger Suche nach Klärung eingefallen, zugefallen.

Wenn aber das stimmte, wäre eine beklemmende Nähe zum Meister der 39 Gleichnisse gegeben, die ihn schaudern ließe: heiliger, die Seele erschütternder Schrecken! Diese Gleichstimmigkeit! Dieser im tiefsten Herzen vollzogene, völlig übereinstimmende Lernvorgang, eine identische Sicht auf die Vorgänge der Welt, trotz 1950 Jahren Abstand, in ganz anderen geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen — vor allem trotz Unähnlichkeit, Unvergleichbarkeit, totaler Unwürdigkeit seiner Person, wobei sogar diese Verneinung schon eine Anmaßung sei! — Wortwörtlich dieselben Schlußfolgerungen …

Die von Siegl empfundene unmittelbare Berührung mit dem Gottessohn erschrecke ihn zutiefst, presse, bedränge seine Demut und Unschuld, nehme ihm den Atem, versetze ihn in das Beben einer Todesangst vor den Abgründen göttlichen Wissens …

Zwar hat er sich später langsam von diesem Abgrund zurückgeschoben und die unterbewußte Nutzung lebenslang gehörter Evangelien als Erklärung vorgezogen, aber jener Keulenschlag nicht nur ähnlicher, sondern wortgleicher Einlösung schwebender Drohung oder Errettung, wie sie aus dem Munde des Allerhöchsten selbst erflossen, blieb unüberwunden.

Der Umgang mit dem Geld und Kenntnis seiner verwickelten Entstehung, Herkunft, Verteilung, Siegls berufsbedingte, befristete Verfügungsmacht, die er darüber hatte, verbunden mit gewissenhafter, auch moralischer Selbstprüfung, ließe ihn nach Abwägung auch weitgehender Möglichkeiten, trotz Bereitschaft zu Radikalität stets wieder zu dem Schluß kommön, daß er mit dem Kapital und der konkreten Macht, über die er nun eben verfüge, das naheliegend Gerechte anfangen müsse: Rückzahlungen für Kredite sistieren, Klein- und Mittelbetrieben durch die Wirtschaftskrise helfen, den Bauern eine Belehnung ihrer Ernte einräumen, einer Witwe Restforderungen in der Höhe ihrer Erbschaftssteuer erlassen, hiezu sogar innerhalb der Bankhierarchie die Akten leicht verändern, Großeinlegern dafür überhöhte Habenzinsen wieder ausreden, streichen, und im Rahmen seiner Befugnisse Spenden und Wohltaten für die Stadt und den Bezirk aus dem Bankbudget leisten, den Kirchenerhaltungsfonds dotieren, wofür er ein Antragsrecht in der Zentrale habe.

Freilich durchschaue er, daß diese Geldmittel auch aus falschen, schlechten, ja bösartigen Handlungen erfließen: der sinnlose Autokult, dem ganze Vermögen geopfert werden, der zwar die Umsätze der Autohändler und Tankstellen bewirkt, zugleich aber Tausenden Kindern das Lebensrecht entzieht; die Schlemmerei in den Gasthöfen und Ho- telsį der zweifelhafte Wochenendtourismus, der Alkoholismus als Wirtschaftsgrundlage eines namhaften Betriebszweigs, die verschwenderische, sündteure Reitpferdhaltung, in letzter Zeit die Ausbeutung polnischer Flüchtlinge, hunderterlei Geschäftszweige, die nur der Eitelkeit, der Zerstreuung, dem Egoismus, auch nackter Kriminalität dienen — bringen schließlich auch die Gelder seiner Bank auf! Man frage nicht, woher die Mittel für Jagdwaffen, Allradfahrzeuge, Zweitwohnsitze stammen! Unmöglich, auch nur die dritte mittelbare Schichte unter den Quellen dieser Mittel bloßzulegen — ein Amalgam von Fleiß und List, Wohltat und Totschlag. Er müsse seine Entscheidungen nach den ihm zugänglichen Einsichten und im Rahmen vorgegebener Regeln treffen.

Tagelang habe Siegl sich mit seiner Einflechtung in diese widersprüchlichen immateriellen und materiellen Zusammenhänge befaßt und sei schließlich zu dem vorgenannten befreienden Schluß gekommen — quasi manchmal die Leber im Stoffwechsel zu sein, die das Gift aufsauge —, als ihm das Bibelwort vom ungerechten Mammon zuflog, mit dem man sich Freunde schaffen müsse … Und des Meisters Genialität blitzte vor seinem Auge auf: Es gibt nämlich nur ungerechten Mammon, und wenn der Gerechte vor jeder praktischen Tat zu untersuchen begänne, woher die Mittel stammen, käme es bei der Unentwirrbarkeit der Weltdinge nie zu guten Werken.

Ähnlich, aber dramatischer sei es ihm im Sommer 1982 ergangen, als er nach schwerem Arbeitseinsatz, oder besser heftigen Streitanstrengungen in der Bankzentrale bei sengender Hitze zwischen den Feldern auf der Süßenbrunner Straße von Stadlau ostwärts mit dem Auto unterwegs war und aus den dunkelgelben

Äckern große grüne Unkräuter in der Höhe mittlerer Sträucher herausragen sah: Weithin über das helle wellige Feld standen die dunklen, saftig kräftigen Wipfel der Schädlinge über den schweren Ähren. Niemand könne da hineintreten, um das Unkraut samt der Wurzel auszureißen, ohne dabei die Weizenhalme zu knicken! Man müsse also beide gewähren lassen … Während Siegl müde, schweißbedeckt über klebrigem Asphalt nordostwärts lenkte, verwendete er diesen Anblick zur Besänftigung seiner Ungeduld, ja Wut über den nie argumentativ zu bewältigenden Kampf mit ideologischer Verbohrtheit.

Wie es genug Ackererde für Weizen und Unkraut gäbe, belegen zunächst tausend Beweise jede vorgewählte Position. Lügner blieben unwiderlegbar… Und er verstand, man lasse eben die beiden Gewächse—das gute Getreide und das giftige Unkraut — wachsen, könne aber nach der Ernte offenkundige Ergebnisse beweisen, mit geringstem Verlust an guten Körnern die schädlichen Kräuter aussondern!

Während er dies dahinfahrend erleichtert bedachte, durchschoß ihn plötzlich glühend heiß die offenkundige Tatsache, daß das ein original Herrenwort ist. Vox ip- sissima über Jahrtausende hinweg! Also habe eine ähnliche Lebenssituation und der gleiche Anblick zu gleichen Schlußfolgerungen geführt, denselben Schmerz gelindert. Siegls Hirn unterlief sogar die ungeheuerliche Unaufmerksamkeit, wörtlich zu denken: der Anblick habe „uns“ zu gleichen Folgerungen geführt! Das hieße also, er, Siegl, und sein Heiland — unmittelbar, ernst gemeint, real, in voller Augenscheinlich- keit belegt, in ein und demselben Satz grammatikalisch zueinander geführt, zusammen genannt, fast gleichgesetzt… Er beteuerte nach genauer Beobachtung dieser Fahrminuten, daß das Evangelium am Beginn seiner Überlegungen nicht vorgekommen sei.

Welche Erleichterung bietet doch das Gleichnis dem ratlosen, wehrlosen Verbitterten, der zwar wisse, daß er recht habe, aber nicht tätig werden könne, lebenslang friedlich bleiben müsse, wenn er nicht unter seine Einsicht zurückfallen und damit seinen Selbstwert brechen wolle.

Siegl habe angehalten und sei auf einen Feldweg tief in die reifen Felder hineingelaufen. Eine solche Nähe, geradezu menschliche Innigkeit habe ihn noch nie mit seinem Erlöser verbunden.

Vollends überwältigend freilich war Siegls drittes Erlebnis ähnlicher Art, als er eines Sonntags mit seinen zwei Töchtern und dem Jüngsten, Oswald, in seinem Garten bei Haringsee die Sonnenblumen dieses Jahres abschnitt. Die Mädchen ließen singend riesige Blüten auf den langen Stielen durch den Garten tanzen, und Oswald, der fast Vierjährige, stand verzaubert vor seiner Blume im Abendlicht. Siegl erntete die Körner als Vogelfutter und erklärte dies den Kindern.

Scheu berührte Oswald den Strahlenkranz aus gelben Blättern mit seinen winzigen Fingern. Den Mund geöffnet, die Wangen gerötet, mit glücklichen Augen ließ er sich auf dieses Blumenwunder ein: ganz hingegeben aufnehmend, reine dankbare Annahme des Gegebenen, selbstvergessen, eine Erfüllung: Der Sinn der Welt verwirklicht sich jetzt, Schönheit und Zuwendung fallen

zusammen, und der Wert dieser Freude übersteige alle Last von Zeitablauf und Bedrohung ringsum.

Oswald streichelte die Sonnenblüten, vergrub murmelnd sein Gesicht in die fleischig saftige Schale inmitten des gelbflammenden Rings. Während des Zusammenräumens und Umziehens mußte Siegl innehalten und seinen Oswald betrachten. Da habe es ihn überkommen: Der Herr muß genau das gesehen haben, was ich jetzt sehe, als er sagte, „Ihr kommt nur ins Himmelreich, wenn Ihr werdet wie die Kinder“. Er hat -gesehen und gedacht wie ich jetzt. Daraus müsse Siegl aber auch auf eine klar bestimmbare, vergleichbare Trauer schließen, die zu solchen Worten drängt. Ohne besondere religiöse Absichten, fernab irgendeiner Bigotterie, im Gegenteil, eher der Verführung zu geschichtlicher Relativierung, Rationalisierung, Abstraktion erliegend, holten ihn plötzlich solche ungesuchten Vorgänge in eine bedrängende, ja, er gestehe ein, sogar erschütternde persönliche Nähe, wie zuinnerste Heilsmitte, hinein. Angst, Ausflüchte, fast zornige Abwehr, Abschüttelungsanstrengung: er Sei doch nicht verrückt, abseitig oder jenseitig veranlagt. Aber der Sog ins Genaue, Sinnfällige, die Sorge Lindernde, seine ziellose Liebe Bindende, Festigende, entließe ihn nicht…

Und ein viertes Mai šei Siegl eben heute früh kurz vor unserem Sachgespräch heimgesucht worden von diesem unerwarteten, wissentlich nie vorbereiteten unwillkürlichen Eintauchen in die Gleichniswelt seines „Bruders aus Nazareth“, als ihm an diesem ganz bedeutungslosen Arbeitsmorgen im Oktober 1982, während des eiligen Gangs durch die Gän- serndorfer Bahnstraße zur Bank, im. alltäglichen inneren Ringen um seinen persönlichen inneren Standort, um Bestand vor der schürfenden Vergänglichkeit — die für ihn die Form einer quälen

den, sich beschleunigenden Flucht inhaltsloser Wochen angenommen hatte -, mit einemmal das Unantastbare, Unverletzbare, nicht nur Überzeitliche, sondern Außerzeitliche seines Ernstes, seiner Not, seiner Anstrengung um das Durchhalten irgendeiner Wahrheit überdeutlich vor Augen stand: Er habe plötzlich die Wörter Vera und Frieda, Martha, Oswald und auch seinen eigenen Namen, Otto, vor sich hingesprochen, er habe die Begriffe Liebe, Leben, Hingabe, Einsatz, Opfer, Gerechtigkeit mehr gespürt als gedacht, es kochte, glühte in den Achseln, und in seiner Brust fand eine Art Entleibung, ein Aufstieg, ein betendes Heranreifen von Gewißheit statt.

Siegl wählte selbst diesen Ausdruck „stattfinden“, weil er sich tatsächlich als quasi unbeteiligten Ort einer Segnung, einer nur einen Augenblick zutreffenden, einblitzenden Befriedung empfand. Er habe heute morgen vielleicht erstmals in seinem Leben überhaupt eine Rettung vorausgespürt, sein eigenes völliges Eintreten, Einrasten in deutlicher Erfüllung, die harten Namen der Liebe, der Gewinn ihrer Unverlorenheit, einiger Haltungen und Gedanken, die sein Schicksal bestimmt hatten.

Und erst einige Stunden später, mitten in der Bankarbeit, nach komplizierten Telefonaten, nach Verhandlungen am Schalter, Buchungsproblemen und Personalentscheidungen, kurz vor unserer dienstlichen Verabredung, nach deren Ende er mir seine seelischen Zustände berichtet hatte, da sei eben jene überwältigende Prophetie Jesu plötzlich in seiner Erinnerung erklungen: daß Himmel und Erde vergehen würden, seine Worte aber nicht: genauso habe Siegl jenen unwiederholbaren, aber unvergeßlichen Seligkeitsstrahl auf dem heutigen Arbeitsweg erlebt, i

Aus dem in Arbeit befindlichen Roman „Die Wüstung“.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung