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Die erweckte Levante

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Nicht nur die ägyptische Hauptstadt Kairo und die im Wiederaufbau begriffene Suezkanalzone sind mit Präsident Sadats nahöstlicher Entspannungspolitik und seiner ökonomischen Liberalisierung der „offenen Tür“ aus fast zwanzigjährigem Dornröschenschlaf nasseristischer Abkapselung und kriegsbedingter Rezession erwacht. Lachender Dritter im Bunde des ägyptischen „Wirtschaftswunders“ ist der Hafenplatz Alexandria, der nun endlich wieder das Tor des reichen Agrar- und Baumwollandes zur Welt sowie Endstation immer zahlreicherer Schiffsladungen von Investitions- und Konsumgütern oder westlicher Touristen geworden ist. Allzu lange hatte sich die „Perle des östlichen Mittelmeers“ mit der Funktion eines fast ausschließlichen Umschlagplatzes sowjetischer Rüstungslieferungen gegen ägyptische Natu-ralabgeltungen, von Reis und Zuckerrohr bis zu Wein, Damentaschen und Stilmöbeln, begnügen müssen.

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Nicht nur die ägyptische Hauptstadt Kairo und die im Wiederaufbau begriffene Suezkanalzone sind mit Präsident Sadats nahöstlicher Entspannungspolitik und seiner ökonomischen Liberalisierung der „offenen Tür“ aus fast zwanzigjährigem Dornröschenschlaf nasseristischer Abkapselung und kriegsbedingter Rezession erwacht. Lachender Dritter im Bunde des ägyptischen „Wirtschaftswunders“ ist der Hafenplatz Alexandria, der nun endlich wieder das Tor des reichen Agrar- und Baumwollandes zur Welt sowie Endstation immer zahlreicherer Schiffsladungen von Investitions- und Konsumgütern oder westlicher Touristen geworden ist. Allzu lange hatte sich die „Perle des östlichen Mittelmeers“ mit der Funktion eines fast ausschließlichen Umschlagplatzes sowjetischer Rüstungslieferungen gegen ägyptische Natu-ralabgeltungen, von Reis und Zuckerrohr bis zu Wein, Damentaschen und Stilmöbeln, begnügen müssen.

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hochdifferenzierte Einsichten in die Probleme menschlicher Existenz, in das Bezugssystem von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Man muß viel vom Menschen wissen, wenn man die Frage der Ordnungen, in denen er lebt, behandeln will. Man muß noch mehr vom Menschen wissen, wenn man ihn für eine menschengerechte, demokratische Gesellschaft erziehen will. Ohne ein realistisches Menschenbild kann es keine wirksame politische Bildung geben. Die Illusionen und Idealbilder, die heute gerade auf dem Bildungssektor vom Menschen immer noch gezeichnet werden, die Tabus, die über viele Erscheinungen seiner wahren Natur verhängt sind, beschwören immer wieder die Gefahr des Totalitären und Absoluten herauf. Die Idealisierung des Menschen und das Bemühen, neue Erscheinungen im Gesellschaftsbild mach Maßstäben vergangener Zeiten zu bewerten, sind Hemmnis und Verhängnis zugleich. Politische Bildung muß wissen, daß eine politische Ordnung nicht auf dem Reißbrett der allgemeinen Moralität konstruiert werden kann.

Welche Konsequenzen sind aus diesen Überlegungen für den Auftrag der politischen Bildung in unserer Zeit zu ziehen? Das Wissen des Menschen über sich selbst fordert mehr als nur Staatsbürgerkunde. Es fordert eine Art Lebenskunde, eine ständige Bemühung, den Blick des Menschen auf sich selbst, auf seine Lebensumstände, auf seine Stellung in der Gesellschaft zu lenken. Wenn Demokratie eine Lebensordnung ist, so muß vor allem die Wirklichkeit des Menschen in diesem Leben verständlich gemacht werden. Die Deutung dieser Lebensumwelt verträgt keine Klischees und keine Moralpredigten, es kann nur aus der ständigen, ehrlichen Anstrengung erwachsen, die Wahrheit zu suchen. Und es verlangt den Mut, die Wahrheit auszusprechen. Politische Bildung ist nicht in erster Linie Wissensvermittlung über die demokratischen Institutionen, sondern ein sehr menschliches Anliegen. Das schließt selbverständlich nicht aus, daß die Darstellung der Normen und Institutionen der Demokratie zweckmäßig und sinnvoll sein kann, nämlich dann, wenn der mündig gewordene Staatsbürger das vorhin aufgezeigte existentielle Anliegen der politischen Bildung bewußtseinsmäßig verarbeitet hat. Aber selbst bei der Darstellung etwa der Verfassungsnormen ist es gut, sich nicht allein, in formal juristischen Abhandlungen zu ergehen, sondern die rechtlichen Normen immer wieder mit dem geistigen Leitbild, den Grundwerten der Demokratie zu konfrontieren. Diese werden um so eher zu fassen sein, je mehr aus ihrer Abstraktion in die Wirklichkeit des Lebens geholt, je mehr sie als Leitbild des Handelns praktikabel gemacht werden.

Es ist allerdings nicht jedermanns Sache, selbst politisch aktiv zu werden. Aber allen ist verständlich zu machen, daß es eine funktionierende Anteilnahme möglichst vieler Staatsbürger voraussetzt. Es wird ein langer, mühevoller Weg sein, der die politische Bildung in dem hier gezeigten Sinne zur vollen Wirkung bringt. Starker politischer Druck, die Weckung der öffentlichen Meinung und laufende konstruktive Kritik werden notwendig sein. Vor mehr als zehn Jahren stellte der Ausschuß für das Erziehungs- und Bildungswesen in der deutschen Bundesrepublik in einem Gutachten fest: Je mehr die Gesellschaft in Bewegung gerät, und je mehr in einem Umbruch der Zeiten die überkommenen Daseinsformen erschüttert werden, desto mehr werden jeder einzelne und jede soziale Gruppe genötigt, aus eigener Kraft und nach eigener Einsicht die neue Gestalt des Lebens zu suchen. In der ständigen Bemühung leben, sich selbst, die Gesellschaft und die Welt zu verstehen und diesem Verständnis gemäß zu handeln — das ist demokratische Bildung in dieser Zeit. Ob der Mensch in diesem Sinne gebildet ist, davon hängt sein eigener Wert ab. Ob es genügend vielen Menschen in genügendem Maße gelingt, davon hängen die demokratischen Lebensformen und die menschliche Zukunft ab.

Der Wandel wird schon im Trieb-wagenschnellzug von Kairo durch das Delta deutlich. Zwar befahren diese Strecke weiter die vertrauten ungarischen Garnituren, doch gibt es erstens selbst in der Luxusklasse kaum noch freie Plätze, und zweitens reist jetzt ein völlig neues Publikum. Statt dösender Parteibonzen mit Freifahrscheinen und einer aufgedonnerten Sekretärin zur Rechten — wenn auch mit Ehering an der Linken — halten jetzt Geschäftsleute aus aller Welt ihre Ledermappen auf den Knien, blättern in Proformas oder lassen sich das Abendessen schmecken. Wie alle anderen Staatsbetriebe, haben die ägyptischen Eisenbahnen bei der enormen Teuerungswelle seit dem Krieg von 1973 nicht mitgehalten, verkaufen das Luxusbillett über 450 Kilometer Kairo—Alexandria—Kairo für 25 Franken und servieren das komplette Menü für ein Zehntel dieses Betrages.

Hunderfünfzig Jahre aufgeklärter Absolutismus der ägyptischen Khe-diven und Könige haben deren Sommerresidenz und heimliche Hauptstadt Alexandria zu einer modernen europäischen Enklave auf afrikanischem Boden gemacht. Mit seiner Corniche, den eleganten Geschäftsstraßen der City und den Villenvororten von Ibrahimia bis Bakosch, wo in den dreißiger Jahren das Hollywood des arabischen Filmschaffens

entstand, mit einer Viertelmillion ständig hier niedergelassener Franzosen, Engländer, Griechen, Italiener, Juden, Deutscher und Schweizer wurde Alexandria an Stelle Konstantinopels zur Metropole der Levante, ökonomische Basis dieser kulturellen und gesellschaftlichen Blüte waren der für die damalige Zeit großzügig ausgebaute Hafen und die weltbedeutende Produktenbörse für Baumwolle.

Nach der Revolution von 1952 hatte die Zweimillionenstadt das Unglück, von Abdel Nasser zum Versuchskaninchen seiner staatssozialistischen, fremdenfeindlichen Experimente ausersehen zu werden. Handel und Wandel verzogen sich spätestens Anfang der sechziger Jahre nach Beirut, die zum Wahnwitz gesteigerten Zollkontrollen und -Verzögerungen für alle Umschläge ließen selbst Ägyptens bilateralen Handel bis 1967 nach dem elastischeren Port Said auswei-che; Von dem einst so glanzvollen Hafenplatz blieb mit der Zeit nichts als bröckelnde, verwahrloste Fassade übrig, eine modrige Karikatur Neapels oder Marseilles, die hinter dem kriegszerstörten Suez oder Ismailia an Ruinenhaftigkeit nicht zurückstand. .' ' ■' * ,

An dieser dekadenten Kulisse konnte sich in den zwei Jahren eines neuen Lebens noch nicht viel ändern, doch schlägt hinter ihr ein vitaler Puls. Schon am “Bahnhof warten die

Portiers der verrotteten Luxushotels, mit ihren antiquiertem Namen aus Churchills ägyptischen Tagen, mit neuem Käppi auf die angekündigten Direktoren, Aufsichtsratsvorsitzenden und Handelsdelegationen. Das

„Cecil“ erstrahlt in neuem Glanz und hat die Preise verfünffacht. Aber auch außerhalb der nun schon viel zu wenigen Hotels und ohne die „Kapitulationen“ von anno dazumal ist der Ausländer selbst in der nationalistischen Hochburg Alexandria wieder König und nicht länger Freiwild der Gassenjungen oder Schikanierknecht von Bürokraten.

Am angenehmsten und wirtschaftlich stimulierendsten macht sich dieser Wandel beim so lange gefürchte-ten. Hafenzoll bemerkbar. Zwar haben die meisten der dortigen Beamten ihre hochheiligen Abdel-Nasser-Photos über dem wackeligen Schreibtisch noch immer nicht gegen die Porträts des neuen Staatschefs Anwar es-Sadat ausgetauscht, befleißigen sich aber sonst eines erfreulichen Gesinnungswandels zu rascherer und entgegenkommender Abfertigung der ein und ausgehenden Güter. Sie haben keineswegs ihrer nasseristischen Doktrin abgeschwo-

ren, profitieren aber nach dem stillschweigenden ägyptichen System direkter Zuwendungen für jede Amtshandlung enorm von dem heutigen Hafenboom. Rasche Leerung der Lagerhallen und offenen Stapelplätze, wo früher die Kisten und Ballen für Monate Quartier nahmen, ist auch deshalb zwingende Notwendigkeit, weil der Haupthafen Ägyptens von Gütern überzuquellen droht. Allein der jetzt freigegebene Import von Personenautos füllt jede freie Ecke des Zollgeländes, dazwischen stehen Baumaschinen, landwirt-

schaftliche Geräte und Kartons mit Nahrungsmitteln. An den Piers liegt Schiff an Schiff vertäut, deutsche, niederländische, italienische und skandinavische Flaggen haben den früher hier dominierenden Sowjetstern ersetzt.

War Alexandria in den letzten zwei Jahrzehnten bei den Seeleuten verrufen, weil sie dort kaum mehr eine Kneipe und schon gar keine Braut mehr finden konnten, so hat sich auch das gewendet. Ägyptens Liebesdienerinnen von mit der Konjunktur wachsender j Zahl, die im Sommer droben in Kgiro Saudiprinzen und Golfscheichs [beglücken, haben den Arbeitsplatz für die Wintersaison an die See verlegt, und in den Nachtlokalen treten an Stelle von ältlichen Bauchtänzerinnen französische Revuestars erster Klasse auf. Allerdings, und damit zusammenhängend, bereitet Alexandria jetzt schon der Interpol als neues Dorado der Mädchenhändler Sorgen.

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