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Die Familie als Festung der Nation

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Mehr als 150 Jahre hindurch- vom Ausgang des 18. Jahr- hunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs - existierte Polen als unabhängiger Staat auf der Karte Europas nicht. Die polnischen Gebiete waren drei verschiedenen politischen und wirtschaftlichen Systemen einverleibt: Rußland, Österreich und Preußen. Die wich- tigste nationale Institution war unter diesen Umständen die Fami- lie; sie wurde zur „Festung" des na- tionalen Geistes. Das in den Fami- lien gepflegte kulturelle Erbe er- hielt die Einheit der geteilten Na- tion und ersetzte polnische Schu- len und kulturelle Institutionen.

Die nationale Unterdrückung und das Gefühl der Fremdheit gegen- über den Teilungsmächten übten auf die Familie eine starke, konso- lidierende Wirkung aus. Sie schütz- te ihre Mitglieder vor den fremden Einflüssen und übernahm einen Teil der Funktionen, die in freien Län- dern von speziellen Einrichtungen erfüllt werden. Zu den allgemeinen Funktionen - nicht nur der adligen, sondern auch der Arbeiter- und Bauernfamilie -, gehörte die Bil- dung im Bereich der nationalen Sprache, Geschichte und Litera- tur.

In der Zeit der nationalsozialisti- schen Okkupation erfüllte das El- ternhaus von neuem vielseitige Funktionen, wurde die Familie von neuem zur wichtigsten nationalen Institution. In den privaten Woh- nungen hatten die Zentren der po- litischen und militärischen Wider- standsorganisationen ihren Sitz; dort konzentrierte sich das kultu- relle Leben. In privaten Wohnun- gen wurde der geheime Unterricht abgehalten, an dem eine große Zahl von Jugendlichen teilnahm und der den Stoff des Gymnasiums sowie aller Richtungen und Arten von Hochschulen umfaßte.

Die „Seele" aller dieser Aktivitä- ten war die Frau. Ihre Tätigkeit beschränkte sich zwar - entspre- chend der formalen Regelung der Beziehungen in der patriarchali- schen Familie - auf die häusliche Sphäre, doch hatten diese Aufga- ben und Funktionen unter den spezifischen polnischen Verhältnis- sen eine besondere Bedeutung.

In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen machte sich weiterhin die sozialökonomische Unterent- wicklung des Landes geltend, die ein Erbe aus der Zeit der Teilung war. Sie bewirkte, daß sich in der polnischen Kultur lange Zeit „ stän- dische Elemente" erhielten und daß die polnische Familie durch eine scharfe Ausprägung verschiedener Typen charakterisiert war.

Den von den Sozialwissenschaft- lern am klarsten umrissenen und am genauesten beschriebenen Typ stellt der der bäuerlichen Familie dar. Da die Landbevölkerung über- wog, war diese Form des Familien- lebens in Polen vorherrschend. Das wichtigste Merkmal der traditio- nellen Organisation einer solchen Familie, die zu dem rückständigen Typ der Bauernwirtschaft gehört, war die Unterordnung der einzel- nen Glieder unter die Interessen der Familie als ganzer. Der Vor- stand der bäuerlichen Familie - sowohl in ökonomischer als auch in sozialer Hinsicht - war der Vater; die übrigen Mitglieder hatten nur einen engen Freiheitsram. Die städ- tischen Familien - sowohl die Ar- beiterfamilien als auch die der In- telligenz - wichen von diesem Muster erheblich ab.

Die Arbeiterfamilie zeichnete sich durch eine größere Individualisie- rung ihrer einzelnen Mitglieder und einen größeren Egalitarismus in den familieninternen Beziehungen aus. Im Vergleich zu den Verhältnissen auf dem Land hatte sich die Arbei- terfamilie von den Bindungen der Großfamilie emanzipiert, wodurch sie wandlungsfähiger geworden war. Sie stellte einen anderen Typ von wirtschaftlicher Einheit dar: Der Ehemann-Vater spielte hier nicht mehr die Rolle des Leiters der Produktion des Familienbetriebs; die Funktion der Verwaltung des Haushalts, der zur Konsumeinheit wurde, übernahm die Ehefrau- Mutter. Der Mann war in der Mehr- zahl der Fälle offiziell der einzige Ernährer der Familie, aber im Zusammenhang mit der zunehmen- den Arbeitslosigkeit wurde faktisch die Frau zum Ernährer.

Die Vorkriegsfamilie des Intelli- genzmilieus kennen wir vornehm- lich aus der Belletristik. Die Kultur der meisten Familien dieses Typs war ein Ergebnis der Anpassung alter adeliger Muster an die Bedin- gungen des Lebens in der Stadt. Ein neuer, typisch städtischer Zug der Intelligenzfamilie war die wach- sende Bedeutung der Ausbildung und des Berufs des Vaters als Grundlage des Familienbudgets. In schnellem Tempo wuchs auch die Zahl der Frauen mit Ausbildung. In der Intelligenzfamilie war die Frau am weitesten emanzipiert und es kam zu deutlichen Veränderungen der Muster des Familienlebens. Das Verhältnis der Ehegatten zueinan- der war durch weitgehenden Egali- tarismus gekennzeichnet, und auch das Verhältnis der Kinder zu den Eltern war durch größere Freiheit und Selbständigkeit charakteri- siert. Die gebildete Schicht war seit eh und je die führende Kraft der Nation. Es gab in Polen keinen entwickelten Mittelstand. Die In- telligenz formte den Lebensstil und die Muster aller sozialen Klassen, Schichten und Kreise.

Auszug aus „ Frauenemanzipation und Sozia- lismus - Das Beispiel der Volksrepublik Polen" von Magdalena Skolowska, Rowohlt-Verlag, Hamburg 1973.

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