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Die Familie der Familien

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Es gab und gibt ideologische Strömungen, die immer wieder an der Familie als adäquater Form menschlichen Zusammenlebens zweifeln, wenn sie die Familie nicht überhaupt als Ursache aller gesellschaftlichen Übel ansehen. Als extreme Alternative zur Erziehung und Betreuung der Kinder innerhalb der Familie steht die staatliche Gemeinschaftserziehung in Kinderkrippen über Einheitsschulen bis hin zum Internat.

Daß dieses Modell nicht erstrebenswert erscheint, zeigt neben umfangreicher Literatur von Soziologen, Psychologen, Gesellschaftswissenschaftern vor allem auch das Verhalten der Familie selbst. Aus einer Studie von Dr. Irene J. Dyk, Universität Linz, geht hervor, daß bei außerhäuslicher Tätigkeit beider Elternteile die Betreuung der Kinder in überwiegendem Maße von Verwandten oder Bekannten übernommen wird; erst in zweiter Linie bevorzugen die Eltern Nacjjbar-schaftshilfeprojekte oder Tagesmütter, während „... öffentliche Institutionen kaum in Anspruch genommen werden.“

Ebenso verhält es sich im Krankheitsfall der Kinder: Die Eltern nutzen die privaten, individuellen Möglichkeiten des gesetzlich verankerten Pflegeurlaubes und des Familienhil-femodells und vermeiden die Inanspruchnahme der Krankenhäuser, soweit dies möglich ist.

Unbestritten allerdings bleibt die Tatsache, daß die gestörte Familie, die „Familie in der Krise“, sich immer mehr ausbreitet und daß viele Erscheinungsbilder der heutigen Familie die freie, individuelle Selbstentfaltung einzelner ihrer Mitglieder hemmen, in manchen Fällen geradezu verhindern.

Nun sind aber Selbstentfaltung, Persönlichkeitsentwicklung, Ausgeglichenheit und Selbstbewußtsein Voraussetzung für eine in Frieden lebende pluralistische Gesellschaft, deren Mitglieder die Fähigkeit besitzen, ihren persönlichen Machtanspruch angesichts der Existenz anderer gleichberechtigter Wesen zu beherrschen und störungsfreies, humanes und soziales Verhalten aufzubauen.

Demzufolge kann die Frage nicht lauten Familie oder Kollektiv; die Frage, die sich der heutigen Zivilisation stellt, heißt: welche Faktoren, Einsichten und Formen führen zu Ausgeglichenheit der Mitglieder der Famüie und damit zur Stabilisierung dieser Form des Zusammenlebens. So versteht auch Helmut Schelsky in seinem Buch „Wandlungen der deutschen Familie“ unter anderem sämtliche sozialpolitische Maßnahmen „als Träger einer neuen Wirtschaftsgesinnung und einer Umgestaltung des Wirtschaftsgebarens zum Zwecke der Befriedigung wesentlicher und unaufgebbarer Bedürfnisse des Menschen, z. B. seiner familiären Daseinsweise“.

Betrachtet man die vielseitigen Funktionen der Familie aus historischer Sicht, so stellt man fest, daß sie viele ihrer Aufgaben im Laufe der sich wandelnden Gesellschaft an übergeordnete Sozialformen abgegeben hat, sei es in Bereichen der Kult- und Schutzfunktionen oder in jenen der wirtschaftlichen oder kulturellen Funktionen. Daraus ergibt sich die Entwicklung neuer Funktionen, die allerdings nicht parallel zur Funktionsabgabe erfolgt und demgemäß eine Phase des vermeintlichen Funktionsverlustes verursacht. Darüber hinaus vollzieht sich die Anpassung der Familienform an die permanente Verände-

rung in der Gesellschaft nur verzögert; dies wieder führt zu erheblichen psychischen Störungen der einzelnen Familienmitglieder. Schelsky spricht sogar vom „Strukturgegensatz zwischen Familie und moderner Gesellschaft“.

Funktionsentlastung sowie die Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie führte im Laufe der Geschichte zu einer Intimisierung der Familienatmosphäre, die Univ.-Prof. Michael Mitterauer in seinem Buch „Vom Patriarchat zur Partnerschaft“ als „mögliche Wurzel psychischer Krankheiten“ ansieht: „Mit dem Verlust materiell-produktiver Funktionen... und den zunehmend subjektiv-emotionalen Ansprüchen an den Ehepartner stieg auch die Anfälligkeit der Ehe für Störungen vielfältiger Art.“ Das nach innen gerichtete Familienleben scheint eine „emotionale Aufladung der Atmosphäre“ zur Folge zu .haben und diese Intensivierung und Individualisierung der Familie führt iiigewissem Sinne nebelndem bereits erwähnten Funktionsverlust zu Desintegration - Herauslösung der Familie aus der Gesamtgesellschaft -und in weiterer Folge zur Isolierung der Familie.

In einer „Makropsychologischen Untersuchung der Familie in Europa“ spricht die Studiengruppe Fuchs-Ga-spari-Millendorfer ebenfalls von der „Isolierung der Kernfamilie“ und sieht in der „Isolation die eigentliche Ursache für die zahllosen negativen sozialpsychologischen Erscheinungen“. Zur Uberwindung dieses Phänomens gehöre vor allem „eine Öffnung nach außen, Einbeziehungen von Familienfremden und Kontakte zu anderen Famüien im Rahmen eines Konzeptes, das man ajs Familie der Familien bezeichnen könnte“.

Leider stehen wir erst am Anfang einer Analyse der psychologischen Mechanismen des menschlichen Zusammenlebens. Der einzelne weiß sehr wenig über Aktionen und Reaktionen der Psyche unter den jeweiligen Bedingungen einer engen Gemeinschaft. Langfristig können nur selten Eigengesetzlichkeit und Automatismen von familiären Verhaltensweisen erkannt und beurteilt werden.

Um Familien bewußter gründen und gestalten zu können, waren Jugend-und Elternschulen im Rahmen des Bildungs- und Medienwesens sicher ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Der erwähnten Studie von Fuchs-Gaspari-Millendorfer ist ein starker gegenwärtiger Trend zur Frühehe zu entnehmen. Demnach würden im Jahre 2075 bereits 84 Prozent der Ehefrauen im Alter von unter 20 Jahren eine. Ehe schließen, im Jahre 1972 haben nur-28 Prozieht in diesem Jugendalter geheiratet. Nun stehen aber frühes Heiratsalter und Geburtenverhalten in „positiver Beziehung zu den Indikatoren der Scheidungshäufigkeit“. Es zeigt sich, daß die „Vorverlegung eines Verhaltens, das erst nach Ablauf eines bestimmten Entwicklungsprozesses einsetzen sollte, störenden Einfluß auf die weitere Entwicklung der Persönlichkeit hat“ und dergestalt geschlossene Ehen kleine Familien begründen. Anderseits beweist die Analyse, daß spätes Heiratsalter den Wunsch nach einer größeren Familie, nach mehr Kindern fördert. Darüber hinaus gelingt es reifen Ehepartnern weit öfter, ihre Ehe harmonisch zu gestalten, so daß es vergleichsweise zu auffallend weniger Scheidungen kommt.

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