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Die Fehlkalkulationen des Francois Mitterrand

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Neuerdings verkünden laufend Wirtschafts- oder Berufsgruppen ihre Unzufriedenheit mit der Politik der französischen Regierung. Der größte französische Bauernverband mobilisierte rund 100.000 Mitglieder zu einer Massendemonstration in den Pariser Straßen.

Einige Tage später lähmten die Straßentransportunternehmen in verschiedenen Teilen des Landes den Verkehr. Die recht repräsentative Gewerkschaft der Technik, mittleren und höheren Angestellten veröffentlichte gerade eine klare Kampfansage an die Regierung. Zur Verteidigung der religiösen Schule mehren sich in verschiedenen Regionen Protestversammlungen der Eltern, jeweils unter Beteiligung von 10.000 und mehr Personen.

Eine eigenwillige Personalpolitik des Innenministers ist die Ursache einer nicht zu verbergenden Mißstimmung in der Polizei. Hiervon erfaßt wird zunehmend der gesamte Beamtenapparat, den das autoritäre Gebaren der Regierung und die immer wieder angedrohte Säuberungsaktion — gelinde gesagt - desorientiert.

Zum ersten Mal in der französischen Geschichte darf man von einer schweren Vertrauenskrise zwischen der Verwaltung und der . politischen Staatsführung sprechen.

Seit den Kantonalwahlen, die am 14. und 21. März die Stimmenzahl des Regierungslagers um rund 10 Prozent verringerte, trat eine fühlbare Verschlechterung der Lage ein — wohl hauptsächlich, weil die Verantwortlichen die ihnen erteilte Lehre nicht zur Kenntnis nehmen wollen und daher glauben, auf ihrem bisherigen Kurs bleiben zu müssen.

Im Eiltempo setzten sie daher eine Reihe sozialer Reformen in Kraft, die niemanden zu befriedigen vermögen, weil sie die Wirtschaft belasten, den Arbeitern zu wenig versprechen und die Staatsausgaben erhöhen. Ein Ende 1981 verabschiedetes Rahmengesetz gab der Regierung das Recht, diese Maßnahmen auf dem Verordnungswege bis 31. März zu verwirklichen. Die Frist war in Anbetracht der vielseitigen Auswirkungen zu kurz, um alle Einzelheiten gründlich zu überdenken.

Das Land steht infolgedessen vor einer beängstigenden Improvisation, die nur eine Kettenreaktion von Mißtrauen auszulösen vermag.

Ein Musterbeispiel ist das den Arbeitnehmern eingeräumte Recht auf eine theoretisch freiwillige, vorzeitige Pensionierung ab 60 Jahren. Der zuständige Minister vermag nicht die Kosten dieser schönen Geste zu berechnen und die Begünstigten wissen nicht, auf welchen Einkommensteil sie verzichten müssen. Denn der Staat kann nur die Sozialversicherungsrente von höchstens 50 Prozent des letzten Lohnes gewährleisten, nicht aber die für den Lebensstandard entscheidende, von privaten Kassen bezahlte Zusatzrente.

Der Silberstreifen am Konjunkturhorizont läßt auf sich warten, zumal trotz staatlicher Subventionen verschiedenster Art die Unternehmen von Investitionen zurückschrecken. Ihre Rentabilität wurde durch eine ständig steigende Steuer- und Soziallast bedenklich verschlechtert und ihre Alarmrufe fanden bisher kein Echo.

Wirtschafts- und Finanzminister Delors bestand zwar gerade energisch auf der sich seiner Uberzeugung nach mehr denn je aufzwingenden Priorität der Intendanz gegenüber ideologischen Vorstellungen und sozialen Zielen. Aber bereits im August letzten Jahres hatte er der Privatwirtschaft in durchaus verbindlicher Form zugesagt, sie von nun an vor neuen Belastungen zu bewahren. Seine politische Position ist jedoch offensichtlich zu schwach, damit er sich mit seinen realistischen Ansichten durchzusetzen vermag.

In alarmierendem Zustand befindet sich andererseits die Staatskasse. Nach vorsichtigen offiziellen Schätzungen wird der Fehlbetrag dieses Jahr von den vorausgesagten 95 Milliarden Francs auf 140 Mrd. anschwellen, für 1983 drohen 200 Milliarden.

Es ist nicht ersichtlich, wie die angestrebte Eindämmung dieser Defizitflut auf 130 Mrd. verwirklicht werden könnte. Denn dann müßte sich die Regierung zu einer strengen Austeritätspolitik durchringen, was ihr in Erwartung der für sie schicksalhaften Kommunalwahlen im Frühjahr 1983 politisch natürlich völlig widerstrebt.

Außerdem werden parallel zu jedem Sparappell an die Ministerien neue Ausgaben beschlossen. Für die mittelfristige Stabilität der Preise ist es gewiß nicht günstig, daß der Fehlbetrag weitgehend durch kurzfristige Kredittransaktionen und durch die Notenpresse gedeckt wird.

Im ersten Vierteljahr 1982 legte der Staat keine einzige langfristige Anleihe auf. Der leichte Rückgang der Inflationsrate von 14 auf 11 Prozent ist ein schwacher Trost, denn der französische Vorsprung gegenüber fast allen Industriestaaten mit Ausnahme Italiens ist nicht kleiner, sondern größer geworden. Unter diesen Umständen braucht man sich über die Schwäche des Francs nicht zu wundern.

Gewiß, Frankreich verfügt noch über einen ausgezeichneten internationalen Kredit. Die Behauptung der Industrie, daß sie bereits ihre Konkurrenzfähigkeit eingebüßt hat, dürfte auch nicht berechtigt sein. Auf die Dauer muß jedoch über den Franc-Kurs wohl oder übel ein Ausgleich für die wirtschaftlichen und finanziellen Gleichgewichtsstörungen geschaffen werden.

Nach seinem Wahlsieg hielt es Mitterrand für besonders befriedigend, daß zum ersten Mal seit langem die soziologische Mehrheit des französischen Volkes auch zur politischen wurde und sich demnach das Volk im soziologischen Sinne mit der Regierung identifizieren konnte.

Die soziologische Mehrheit stellt in Frankreich aber tatsächlich eine breite kleinbürgerliche Schicht, die in der Nachkriegszeit das solide Fundament der Wohlstandsgesellschaft lieferte und nicht in die soziologisch-ideologischen Kategorien von reich und arm eingegliedert werden kann.

Mitterrand vergaß, daß es seiner Partei nie gelang, in der Arbeiterschaft Fuß zu fassen und daß außerdem selbst bei den Kommunisten die Arbeiter nur die Hälfte der Mitglieder stellen. Als Folge dieses soziologischen Irrtums vermag die jetzige Politik nur zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bevölkerung zu befriedigen, während die überwiegende Mehrheit, teils mit Recht, teils mit Unrecht, schrittweise, aber unumgänglich zu der Uberzeugung gelangt, für diese Politik die Rechnung bezahlen zu müssen.

Nur ein schneller und brutaler Kurswechsel würde die echte soziologische Mehrheit des französischen Volkes daran hindern, die sozialistisch-kommunistische Regierung mit aller Schärfe zurückzuweisen.

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