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Die Folgen des Golfkriegs

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Ein Volk liegt am Boden: Die stolzen Irakis leiden an den Folgen eines Krieges, den sie nicht vom Zaun gebrochen haben. Um Saddam geht es längst nicht mehr, meint der in Wien lebende Psychologe und Kinderarzt Ahmad Türk nach einem Lokalaugenschein in Irak.

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Ein Volk liegt am Boden: Die stolzen Irakis leiden an den Folgen eines Krieges, den sie nicht vom Zaun gebrochen haben. Um Saddam geht es längst nicht mehr, meint der in Wien lebende Psychologe und Kinderarzt Ahmad Türk nach einem Lokalaugenschein in Irak.

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FURCHE: Sie waren vor kurzem mit Delegierten des österreichischen Hilfswerks im Irak. Wie leben die Menschen in diesem Land nach dem Krieg ?

AHMAD TÜRK: Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß in den größeren Städten überhaupt kein Krieg stattgefunden hat. Das Leben läuft ganz normal. Die Geschäfte sind mit Waren gefüllt. Die Straßen voll Autos. Alles ist aber sehr teuer. Beim genaueren Hinsehen zeigt sich jedoch, daß manches doch nicht zu bekommen ist. In Apotheken sind verschiedene Medikamente nicht erhältlich. Der aufmerksame Beobachter sieht auch, wieviele offizielle Gebäude, beispielsweise Ministerien, zerstört sind, manchmal sogar Wohngebiete und zwei der sieben Brücken in Bagdad. Am Lande hingegen ist die Versorgungslage um vieles schlechter. Der Leidensdruck der ländlichen Bevölkerung ist daher größer. Das Land-Stadt-Gefälle ist im Irak beträchtlich. Da bei vielen Familien der Vater, der Bruder oder der eigene Ehemann während des Krieges ums Leben gekommen ist, geht einer der Söhne arbeiten.

FURCHE: Wie viel kann eine ungelernte Arbeitskraft im Monat verdienen?

TÜRK: Zwischen 100 und 150 Dinar im Monat.

I FURCHE: Was kann man damit kaufen?

TÜRK: Eine Dose Pulvermilch, die zur Ernährung eines Kindes für drei Tage reicht, kostet 14 Dinar. Ein Kilo Brot zehn Dinar, ein Kilo Fleisch dreißig Dinar.

FURCHE: Wie schaffen es die Menschen bei dem Ungleichgewicht von Einkommen und Preisen zu überleben?

TÜRK: Der Staat versorgt die Bevölkerung mit den Grundnahrungsmitteln wie Mehl, Öl, Zucker. Auch die Versorgung der Kranken in den Spitälern, beispielsweise Operationen und Aufenthalte, ist gratis.

FURCHE: Wie schaut die medizinische Lage im Irak aus?

TÜRK: In fast allen Spitälern mangelt es an den nötigsten und wichtigsten Medikamenten, auch Einwegnadeln, Einmalhandschuhe und -spritzen sind so gut wie nicht vorhanden. Der Mangel wird dadurch kompensiert, daß die Geräte gekocht werden, was nur bedingt möglich ist. In den meisten Spitälern funktionieren die

Laboratorien nicht, weil die Reagenzen oder Ersatzteile für die Geräte fehlen. Beim Röntgen fehlen meistens die Entwicklerflüssigkeiten für die Filme. Chronisch erkrankte Menschen werden häufig nicht operiert, weil es keine Narkosemittel gibt. Lachgas fällt als Chemikalie unter das Embargo. Auch Bestrahlungstherapie, die für krebskranke Menschen lebensnotwendig ist, kann nicht durchgeführt werden. Großbritannien darf die notwendigen chemischen Substanzen nicht liefern. Impfstoffe im Wert von fünf

Millionen Dollar, die Summe wurde vor dem Golfkrieg an Japan überwiesen, sind bis heute nicht im Irak eingetroffen. Zwei Schiffe voll Chlorin zur Wasseraufbereitung liegen vor Aka-ba. Die Fracht darf nicht gelöscht werden. Das Wasser aus dem Fluß bleibt daher ungenießbar und gefährlich. Das bedeutet als Ergebnis: Viele Kinder leiden an Cholera, Typhus, Darminfektionen.

FURCHE: Sie haben im Irak nicht nur Kinderspitäler besucht, sondern auch Krankenhäuser für Frauen und Geburtshilfe. Was ist Ihnen dort aufgefallen?

TÜRK: Nach Angabe der Ärzte hat sich seit dem Golfkrieg die Fehlgeburtenrate um das Sechsfache erhöht. Die Ursachen sind im Streß, in Ängsten, im Schock durch den Krieg zu sehen. Während des Krieges war es häufig auch nicht möglich, Spitäler rechtzeitig bei Komplikationen zu erreichen. Dazu kommen weitere Schwierigkeiten: Kein Wasser, kein Strom, keine ausreichenden Transportmittel. Unterernährung ist eine weitere der Hauptursachen. Auch die Frühgeburtenzahl ist deutlich gestiegen. Die Brutkästen in allen Spitälern sind übervoll. Neugeborene mit 600 bis 700Gramm Geburtsgewicht sind keine Seltenheit. Ängstliche, verzweifelte Frauen sind daher häufig. Anders gesagt: Bleibt das Embargo in dieser Form bestehen, ist mit dem Tod von etwa 170.000 Kindern zu rechnen.

Auch Kinder, die die schwierige Situation im Spital meistern und entlassen werden, laufen Gefahr, rückfällig zu werden, da es keine Milch gibt, beziehungsweise diese zu teuer ist und das Wasser verseucht ist.

FURCHE: Die Folgen des Embargos sind überall spürbar. Werden die Menschen im Irak mit ihrem Leben unzufriedener und äußert sich diese Unzufriedenheit im steigenden Widerstand gegen Saddam Hussein?

TÜRK: Sicher nicht. Die armen

Leute sind mit den täglichen Problemen zu überleben derartig beschäftigt, daß sie über Politik überhaupt nicht nachdenken. Sehr viele Menschen verstehen den Sinn des Embargos überhaupt nicht. Sie verstehen nur: Kuweit wurde freigegeben, die UNO-Resolutionen wurden befolgt. Der Zusammenhang zwischen der Politik von Saddam Hussein unddem Embargo bleibt ihnen verborgen. Was die Menschen wirklich beschäftigt, ist die Tatsache, daß sie ihre Zukunft nur sehr ungewiß sehen. Die Reichen spüren das Embargo ohnehin nicht. Im Gegenteil. Durch den Schwarzmarkt werden die Skrupellosen noch reicher. Der Krieg hat jenen Menschen am meisten geschadet, die ihn nicht verursacht haben. Und diese spüren auch heute die Folgen noch am stärksten. Die Irakis gelten in der arabischen Welt als stolzes Volk. Druck von außen verstärkt den inneren Zusammenhalt. Nicht grundlos heißt das arabische Sprichwort: „Ich und mein Bruder gegen meinen Cousin, ich und mein Cousin gegen den Feind." Die Konsequenz aus dem Gesagten kann daher für mich nur lauten: Aufhebung des Embargos um eine Entwicklung wie im Libanon zu verhindern.

FURCHE: Glauben sie nicht, daß nach der blutigen Geschichte für die internationale Völkergemeinschaft nur ein Irak ohne Saddam Hussein ein Gesprächs- und Handelspartner ist?

TÜRK: Es geht nicht darum, ob Saddam politisch überlebt oder nicht. Es geht um die Beseitigung der politischen Bevormundung der Ersten Welt den Arabern gegenüber. Und das gilt nicht nur für den Irak.

Dr. Ahmad Türk ist Kinderarzt in Wien. Mit ihm sprach Helmuth A. Niederle.

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