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Digital In Arbeit

Die Frau, die sich im Dschungel verirrt

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Ich war Tätzeuge. Ich habe gesehen, wie eine Demokratie erledigt worden ist. Sie hat sich nicht gewehrt. Die Mordwerkzeuge waren bürokratische Formeln. Man hat mit Formeln, wie mit einem Messer getötet. Diese kalte Tötung war unheimlicher, grausiger, als es eine blutige Tat gewesen wäre. Es bedurfte keines Staatsstreiches, nur einiger Minuten vor dem Mikrophon, und die große Demokratie der Dritten Welt, die einzige auf dem asiatischen Kontinent, klammert man Israel aus, war erledigt. Jetzt steht die westliche Welt, die doch fast nur Demokratien umfaßt, einer Dritten Welt gegenüber, die alle Demokratien in der Reichweite ihrer Gewalt als Fremdkörper ausgemerzt hat.

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Ich war Tätzeuge. Ich habe gesehen, wie eine Demokratie erledigt worden ist. Sie hat sich nicht gewehrt. Die Mordwerkzeuge waren bürokratische Formeln. Man hat mit Formeln, wie mit einem Messer getötet. Diese kalte Tötung war unheimlicher, grausiger, als es eine blutige Tat gewesen wäre. Es bedurfte keines Staatsstreiches, nur einiger Minuten vor dem Mikrophon, und die große Demokratie der Dritten Welt, die einzige auf dem asiatischen Kontinent, klammert man Israel aus, war erledigt. Jetzt steht die westliche Welt, die doch fast nur Demokratien umfaßt, einer Dritten Welt gegenüber, die alle Demokratien in der Reichweite ihrer Gewalt als Fremdkörper ausgemerzt hat.

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Die kurze Todesformel: Ausnahmezustand, Aufhebung aller verfassungsmäßigen Rechte der Staatsbürger, Ansammlungsverbot. So einfach ging das, ohne Militär, nur mit einigen hundert Taxis in den Städten als Verkehrsmittel für schlaftrunkene Fahrgäste auf dem Weg in die Gefängnisse. Mit den Staatsbürgerrechten waren auch die Föderativrechte der 21 Bundesstaaten erloschen. Natürlich gibt es noch die Regierungen in den Bundesstaaten, natürlich haben sie ihre Föderativrechte. Nur sind sie der Zentralge-wält unterstellt. Sie haben das Recht, als Exekutoren der Zentralgewalt zu funktionieren. Wen schert es da, daß in einem Bundesstaat eine Regierung der Oppositionsparteien gewählt worden ist? Sie darf sogar bleiben. Funktionieren, wie die Dame in Delhi es will. Selbst wenn der Ausnahmezustand einmal aufgehoben sein wird, der Lebensnerv der wiedererlaubten Demokratie und der Föderation wird abgetötet sein.

Die Tat war in der Nacht begangen worden. Am Morgen war alles schon vorbei. Sechs Stunden Arbeit einer einsamen Dame in ihrem bürgerlichen Wohnhaus — und der politische Rahmen war zerbrochen, in dem sechshundert Millionen Menschen gelebt hatten, die Staatsform war abgeschafft, um die der Nationalkongreß gekämpft hatte. Die Staatsform und der Rahmen hatten mehr als achtundzwanzig Jahre lang Form und Konsistenz. Denn was jetzt, im achtundzwanzigsten Jahr der Freiheit zerstört worden ist, das wurde schon in den letzten dreißig Jahren des Kolonialregimes geschaffen, zum Teil auch der Kolonialadministration und dem Londoner Parlament abgerungen. Der Staat des Mahatma Gandhi ist jetzt eine Diktatur geworden, die Frucht des gewaltlosen Widerstandes ein Polizeistaat.

Der glatte Ablauf müßte jeden Demokraten beschämen, dessen Schamgefühl und dessen Fähigkeit zur Empörung nicht schon an Überbeanspruchung zugrundegegangen sind. In der Nacht vor der Verkündung des Ausnahmezustandes fiel in der Bahadur Schah Zafar Marg, wo die Druckereien der großen Zeitungen zu finden sind, der Strom aus. Stromausfälle sind in Delhi gar nicht ungewöhnlich. Doch jetzt, da der Monsun schon die ersten Regen gebracht hatte? Als die Redakteure das E-Werk anriefen, war dort niemand anwesend oder es hob niemand ab. Dann erkannte man in den Redaktionen, daß nur das Zeitungsviertel in Dunkelheit lag, das andere Delhi aber reichlich mit Strom versorgt war. Und die Journalisten ahnten, was kommen werde und sie gingen nach Hause.

Es gibt da zwei Versionen: Stromabschaltung über höhere Anordnung oder durch die Gewerkschaft des E-Werkes, das Bahadur Schah Zafar Marg beliefert, durch die sowjetkommunistische AITUC also.

Später in der Nacht gab es plötzlich in allen Städten Indiens einen intensiven Taxiverkehr. Die Taxis waren geheuert worden, um die Führer der Opposition und die unliebsamen der Regierungspartei aus den Betten und in die Gefängnisse zu holen. Die Technik der Verhaftung von Tausenden bereitete keine große Schwierigkeiten. Denn in den Gefängnissen von Indien sitzen seit Jahren ohne Gerichtsverhandlung mehr als achtzehntausend „Naxali-ten“, des Maokommunismus Verdächtige. Gegen Morgen wurde der Verkehr auf den Straßen der Stadt schwächer. Aber die Tore der Gefängnisse blieben noch offen; es kamen Nachzügler an. Nirgends gab es Gewehrpyramiden, Panzer, die üblichen Attribute von Staatsstreichen.

Die Zeitungen blieben natürlich aus. Aber Indira Gandhi erschien auf dem Bildschirm und proklamierte den Ausnahmezustand. Es war ein doppelter, ein spezieller. Denn ein Ausnahmezustand war schon während des Krieges gegen Pakistan, 1971, proklamiert worden. Der galt der Abwehr des äußeren Feindes und seiner Agenten und wurde nie aufgehoben. Der neue soll aber ausdrücklich, niemand kann Indira Gandhi Unklarheit vorwerfen, gegen den Feind im Inneren, der natürlich mit dem äußeren Feind, wie denn auch anders, zusammenarbeitet, gerichtet sein.

Jetzt begann das Panorama des Abscheulichen. Die Führer der Opposition waren hinter Schloß und Riegel. Mit ihnen die „Jungtürken“, sozialdemokratische Opponenten gegen die Indira in ihrer eigenen Partei. Einige Große aus der Kongreßführung weigerten sich, mitzumachen. Aber alle anderen Kongreßführer, Unionsminister, Premierminister aus den Bundesstaaten, Parteiführer, erschienen auf dem Bildschirm und sagten ihre Lobessprüche für Indira und ihre Drohungen gegen die Feinde der Indira auf. Das ging den ganzen Tag lang.

Aus dem bitteren Karikaturenkabinett hoben sich nur jene ab, die den (Moskau-) Kommunisten nahestehen, oder als deren Vertrauensleute gelten. Wie Nandine Satpathi, die von Indira in ihr Amt gebrachte Premierministerin von Orissa, wuß-

ten die alle, was sie sagten, und wollten auch nichts anderes sagen.

Die Menschen in den Städten waren sprachlos. Doch die Sprachlosigkeit befiel natürlich nur jene, die sich politisch zu artikulieren vermögen, die Zeitungen lesen, oder überhaupt lesen können, die diesseits jener Grenzlinie leben, auf deren anderer Seite man, in sich und seinen Hunger abgekapselt, dem Nullpunkt zutreibt. Bestenfalls zweihundert Millionen Menschen von den sechshundert Millionen sind fähig, sich zu artikulieren, leben diesseits der Grenzlinie des Hungers und zählen. Und diesen Menschen war alles ein Rätsel. Warum, warum in diesem Augenblick?

Eine Woche vor ihrer Tat hatte dieselbe Ministerpräsidentin Zeugnis für ihre politische Reife und für die indische Demokratie abgelegt. Sie war wegen Wahlmißbrauches angeklagt worden. Sie erschien als Angeklagte vor Gericht. Sie nahm das Urteil entgegen, appellierte an das Obergericht und erhielt einen Aufschub der Rechtsfolgen des Urteils bis zur Session des Senats. Sie hat sich gefügt. Und sie konnte Ministerpräsidentin bleiben, freilich mit unschönen Brandmarkungen.

Niemand konnte wissen, daß der Spruch des Journalrichters Sinha des Obersten Gerichts, in herrlichem Englisch, mit souveräner Weisheit verfaßt, der Schwanengesang der Demokratie sein werde. Und niemand wußte, was hinter dem schweren Antlitz der Frau vorging, die schon Jahre lang nicht so überzeugend gewirkt hatte wie in den Stunden, als sie Urteil und Entscheidung auf sich nahm.

Sicherlich mobilisierte die Opposition gegen den Aufschub der Rechtsfolgen, forderte den Rücktritt der verurteilten Ministerpräsidentin. Doch die Opposition ist seit zwei Jahren eine haushohe Welle, die immer, bevor sie Indira unter sich zu begraben drohte, in sich zusammenstürzte. Diese Gefahr war also nicht tödlich. Aber es mobilisierten auch die Rivalen in ihrer eigenen Partei gegen die Regierungschefin und Architektin des Sowjetbündnisses und da die Opposition aus der eigenen Partei immer gefährlicher wurde, stützte sich die Indira immer stärker auf den einzigen Kader, der ihr noch zur Verfügung stand, außer dem polizeilichen: auf den (Sowjet-) kommunistischen.

Die Opposition hatte zu einer „Woche des zivilen Widerstandes“ aufgerufen; kaum etwas Neues, kaum eine akute Gefahr. Zugleich mit dem Aufruf kam, aus heiterem Himmel, die Forderung des Verbandes der Unberührbaren, Indira möge zurücktreten. Dieser Verband besteht aus der Pariah-Elite der Regierungspartei, den hochgepäppelten „Onkel Toms“ der Indira Gandhi. Der Schlag war gut gezielt, der Schläger, der ihn führte, zielt nämlich immer gut. Hinter dem Verband steht ein Machtkoloß innerhalb der Regierungspartei und der Regierung, der Unberührbare Jagjivan Ram. Als Verbündeter der Indira war er in deren innenpolitischen Triumphjahr, 1969, Präsident der Kongreßpartei. Im Jahr des militärischen Triumphes der Indira über Pakistan war er Verteidigungsminister. Wie eine dunkle Dampfwalze arbeitete er sich immer näher an die Spitze heran. Je näher er der Spitze kam, desto größer seine Macht, eine Hausmacht von achtzig Millionen Unberührbaren in Indien. Je fester seine Hausmacht wurde, desto wacher wurde das Mißtrauen der Indira Gandhi.

Als Verteidigungsminister hatte er vom indisch-sowjetischen Bündnis profitiert. Doch den Sowjets war er immer zu undurchsichtig gewesen. Wahrscheinlich wäre er ein blendender Partner des Nikita Chruschtschow gewesen. So aber wurde er der Kristallisationspunkt jener Fraktionen in der Regierungspartei, die ihre Staatspolitik vom Bündnis mit den nach Vietnam unheimlich gewordenen Sowjets distanzieren, ihre Parteipolitik gegen die sowjetkommunistische Partei in Indien-ausrichten wollten.

Die demokratisch-sozialistischen „Jungtürken“ liebten den Jagjivan nicht, der es vom verprügelten Unberührbaren in Bihar zu einem Großgrundbesitzer in Bihar gebracht hatte. Doch sie sahen die Möglichkeiten. Indira erkannte die Gefahr.

Die Linienführung des bürokratischen Todesurteils über die Demokratie verrät nicht nur die Handschrift einer starken Frau, sondern läßt vermuten, daß jemand hinter ihr gestanden ist, um ihre Hand zu führen. Seit die Oppositon in Patna sich rührt, tragen die indischen Kommunisten sowjetischer Färbung sich der Indira als Kader und als politische Exekutoren an. Seit die Opposition sich in ihrer eigenen Partei rührt, versuchen die Sowjetkommunisten in Indien, Indira zu überzeugen, daß sie sich nur auf ihre Kader verlassen könne. Im Kampf gegen „Faschisten“ wie Jaiprakash Narayan, gegen CIA-Agenten wie die demokratisch-sozialistischen „Jungtürken“ um Chandra Cheika und Ram Dan in der eigenen Partei.

Mit dem Ausnahmerecht, das von Indira proklamiert wurde, war eine Verhaftungswelle verbunden; die schien sich nach dem Rezept der Moskau-Kommunisten zu richten. Und in diesem Land, in dem heute alle der Demokratie nachtrauern, die, als es um ihre Existenz ging, so wenige Verteidiger fand, jubelt die sowjet-kommunistische Partei. Und in Moskau anerkennt die Sowjetpresse die Reife der Indira, den Fortschritt in der Entwicklung der Indischen Union auf dem Weg zum Sozialismus.

Was in Delhi geschieht, wird In- • dira und Indien dem Westen weiter entfremden und Moskau näherbringen.

Indira Gandhi wirkt gealtert, belastet. Sie hat es sich nie leicht gemacht. Sie machte sich auch diesen Schritt nicht leicht. Machthunger ist nicht die psychologische Exklusivformel für diese Frau. Doch sie weiß, sie konnte ihr Versprechen nicht halten.

Sie konnte den Hunger nicht besiegen. So will sie die Opposition und ihre Rivalen überwinden, die sie bedrängt und zur Verzweiflung getrieben haben. Neu beginnen! Doch mit wem? Um sie gibt es nur noch Kreaturen und sowjetkommunistische Kader. Sie will einen neuen Weg gehen. Unbehindert, den autoritären. Sie hatte dabei vom ersten Schritt an teuflische Weggefährten. Die haben sich schon eng an sie angeschlossen. Auch der Dschungel lichtet sich nicht: Partikularismus, Parasiten-tum, Korruption. Ihr autoritärer Weg führt tiefer in das indische Dunkel hinein, nicht aus dem indischen Dunkel heraus. In Wirklichkeit ist sie ganz allein, eine einsame Frau, die sich immer tiefer im. Dschungel verirrt. Auch wenn man sie die „Moghul-Lady“ nennt.

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