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Die Freiheit des Liebenden

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Er wußte, daß er durch Räume ging, aber er wußte nicht, ob es ein Wohnraum war, in dem er sich im Moment aufhielt, oder ein Zeitraum, eben ein Stück Vergangenheit, fern wie das Reden mit den Freunden der Jugendzeit, oder nah wie das Gespräch, das er gestern noch mit ihr geführt hatte? Danach meinte er, den Duft ihrer Haut zu merken, blickte auf, die Schranktüre stand halb offen, daneben die Betten, der Tisch mit dem Spiegel darauf, all die Jahre, die er mit ihr verbracht hatte waren dann Gegenwart, die ersten Wanderungen durch das Hügelland im Osten der Stadt. Wie spät war es in seinem Leben? Danach das Wohnzimmer. Die Wand mitden Büchern. Die Lesestunden zu zweit. Die Stille. Bloß das Ticken der Uhr war zu hören. Manchmal ihr Atem oder das Geräusch des Umblätterns. Und er wußte, daß er selbst still geworden war während der vergangenen Jahre. Zu still für sie? Zu viele Gedanken, die über diese Welt der

Dinge, die sie so sehr liebte, hinausreichten in ein Reich über oder hinter oder nach dem Erdendasein? Was bleibt, hatte er sich immer wieder gefragt. Was muß hier gelassen werden, und was kann man mitnehmen und tragen während der Reise, die mit dem Tod beginnt?

Die Truhe. Die Laden. Die Kästen. Diese Ordnung? Gelassen und bedachtsam muß sie gewesen sein. Es fehlte auch so wenig von ihren Dingen, daß er meinte, sie müsse bald wiederkommen. Aber die Zeit ihrer Abwesenheit? Wochen? Monate? Er hob die Schultern. Ließ sie wieder fallen. Nur ein Tag? Zwei Tage? Im Wohnzimmer wußte er zuletzt, daß der Zeitraum, in dem er sich nun befand, plötzlich wieder die Gegenwart war. Die ersten klaren Gedanken.

Heute früh war noch alles wie während der Jahre zuvor. Mittags die gemeinsame Mahlzeit. Sehr leise ist sie danach aufgestanden. Ich war in meinem Zimmer unter dem Dach und habe gearbeitet. Dann hat sie ihre wichtigsten Dinge gepackt und ist weggegangen. Ich weiß, daß sie nie mehr wiederkommt, weil sie nicht leben konnte mit einem, der ein wenig in der Vergangenheit wohnt, viel in der Zukunft, aber kaum je in der Gegenwart. Sie liebt das Leben und ich liebe, darüber hinaus zu blicken und weiter. Aber ich liebe sie doch! Und sie ist weggegangen. Wieso bin ich nicht traurig? Oder wütend? Was habe ich gelernt während der letzten Jahre, das mir erst jetzt ins Bewußtsein tritt?

Danach setzte er sich auf den Lehnstuhl vor der Bücherwand. „Der Friede sei mit dir”. Er sprach diesen Satz leise und trotzdem hörte er ihn, als ob ein anderer im Raum gesprochen hätte. Gleichzeitig wußte er und wußte es zum ersten Mal, daß seine Liebe zu ihr im Lauf der Zeit bedingungslos geworden war, unabhängig von Umständen und Gegebenheiten wie ihre Anwesenheit oder ihre Abwesenheit, Gegebenheiten, die ihren Stellenwert eben verloren haben. Er wußte, daß er sie unabhängig von ihrem Tun und Lassen zu lieben begonnen hatte, und daß diese Liebe unzerstörbar ist und ewig, weil eben bedingungslos, und daß er damit jene absolute Freiheit erreicht hatte, die es nur jenseits jeder Abhängigkeit von Umständen geben kann.

„Die Freiheit des Liebenden”. Wieder sprach er diesen Satz leise und auch diesmal war es, als ob ein anderer im Raum gesprochen hätte. Die Liebe, die nur noch das Glück des anderen will! Und damit sind Liebe und Freiheit zu Gegenständen in meiner Seele geworden wie das Gestein, wie der Wald oder der See draußen in der Natur Gegenstände sind. Plötzlich kann ich Gegebenheiten in meiner Seele sehen? Die Sonne beleuchtet die Dinge dieser Welt. Aber in mir? Nein! Keine Fragen! Ich bin frei, weil ich liebe. Ich liebe, weil ich frei bin. Danach wußte er, daß in dieser Welt mehr als das für ihn nicht zu erreichen sei. Er war glücklich.

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