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Die Freiheit verlangt Kontrolle

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Seit dem Zusammenbruch der totalitären Systeme nach dem zweiten Weltkrieg — außerhalb der kommunistischen Herrschaft — müssen wir mit tiefem Bedauern eine ständig fortschreitende Abwertung der parlamentarischen Demokratie in der Welt feststellen. Wo in neugebildeten Staaten, gestützt auf die UNO-Charta, parlamentarische Systeme errichtet wurden, sind vielfach Offiziersdiktaturen an ihre Stelle getreten. In Lateinamerika wie in Afrika sind die formellen parlamentarischen Demokratien weitgehend durch Diktaturen ersetzt worden. Wo eine Bewegung zur Erneuerung der Parlamentsrechte einsetzt, wie derzeit in Chile, wird, zum Teil mit ausländischer Unterstützung, Reaktion mobilisiert.

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Seit dem Zusammenbruch der totalitären Systeme nach dem zweiten Weltkrieg — außerhalb der kommunistischen Herrschaft — müssen wir mit tiefem Bedauern eine ständig fortschreitende Abwertung der parlamentarischen Demokratie in der Welt feststellen. Wo in neugebildeten Staaten, gestützt auf die UNO-Charta, parlamentarische Systeme errichtet wurden, sind vielfach Offiziersdiktaturen an ihre Stelle getreten. In Lateinamerika wie in Afrika sind die formellen parlamentarischen Demokratien weitgehend durch Diktaturen ersetzt worden. Wo eine Bewegung zur Erneuerung der Parlamentsrechte einsetzt, wie derzeit in Chile, wird, zum Teil mit ausländischer Unterstützung, Reaktion mobilisiert.

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Diese Entwicklung wird durch die Kapitalgesellschaften, die die Reichtümer ihres Niederlassungslandes monopolartig ausbeuten, gefördert. Der militärische Kolonialismus folgt dem politischen Kapitalismus. Den Schutz der Ausbeutung übernehmen heimische Generäle und Soldaten, anstatt der Ausländer während der Kolonialzeit.

Im Gefolge der Mechanisierung in der Landwirtschaft, wie der Ausbreitung der Industriewirtschaft, wächst unter der Arbeiterschaft dieser Länder der Widerstand gegen die Ausbeutung. Durch gewerkschaftliche und teilweise politische Organisationen versuchen sie auf Gesetzgebung und Regierung ihres Landes Einfluß zu nehmen; oder gar, wie in China, die Nationalisierung der ausländischen Gesellschaften durchzuführen, um den Reichtum des eigenen Landes dem eigenen Volk zu erhalten.

Die ausländischen Kapitalgesellschaften lassen immer einen kleinen Teil der heimischen Bevölkerung an den erzielten Gewinnen teilhaben und machen sie damit zu erbitterten Gegnern jeder Nationalisierung.

Dieser Prozeß wird gefördert durch die weltweite Politik der stärksten Kapitalmacht, der USA. Sie rechtfertigen die Aufrechterhaltung des wirtschaftlichen Übergewichts durch den Kampf gegen den Kommunismus. Während aber unter den amerikanischen Präsidenten Roosevelt und Truman die Hebung des Lebensstandards der arbeitenden Bevölkerung in den jungen Staaten als die sicherste Gewähr dafür angesehen wurde, daß die Arbeiterschaft selbst ihre Freiheits- oder gar Mitentscheidungsrechte verteidigen würde, ist seit der Wahl Eisen-howers in der amerikanischen Politik die militärstrategische Position allein bestimmend geworden. Es ist daher gleichgültig, ob in den Ländern der militärischen Stützpunkte und der gesicherten Ausbeutung Diktatoren dem Volk die Freiheit nehmen, die angeblich gegen den Zugriff des Kommunismus verteidigt wird. Organisierte, auf demokratischem Boden agierende Gewerkschaften, verlangen auf parlamentarischem Boden die Mitbestimmung und die Teilung des volkswirtschaftlichen Ertrags zwischen Kapital und Arbeit. Es ist im weltweiten Maß-

stab eine Wiederholung dessen, was in den zentraleuropäischen Ländern seinerzeit der Faschismus vollzogen hat. In diesen Ländern sowie in den Demokratien, die der faschistischen Bewegung in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erfolgreichen Widerstand leisten konnten, ist die parlamentarische Demokratie noch immer intakt geblieben, wenngleich sie sich dem weit ausgebreiteten neuen Führerkult, der durch die modernen Massenmedien verstärkt wird, nichf entziehen kann. Allmählich reift in den erhaltenen, parlamentarischen Demokratien die Erkenntnis, daß nicht nur die Depression durch Massenarbeitslosigkeit ein guter Nährboden für autoritäre Systeme ist; auch die Passivität des Zuschauens und das überwiegende Interesse an Konsum und Konsumsteigerung schwächen allmählich das Bewußtsein der Wähler für die notwendige Teilnahme und Kontrolle, die allein die Selbstbestimmung des Volkes dauernd sichern können. Die Idealvorstellung der parlamentarischen Demokratie beruht auf einem Gleichgewicht der Macht. Die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Volksvertretung hat das Recht der Gesetzgebung und soll die Kontrolle über die die Gesetzesbeschiüs-se des Parlaments vollziehende Regierung ausüben. Eine von der Regierung unabhängige Rechtssprechung soll die Rechte der Staatsbürger in Streitigkeiten untereinander wie gegen die Exekutive sichern. Diese ideale Machtverteilung ist durch die technische Entwicklung wie durch das geänderte Verständnis der Staatsbürger vielfach verschoben worden.

In allen parlamentarischen Demokratien ist das Gesetzgebungsrecht des Parlaments immer mehr auf Gesetzesbeschlüsse eingeschränkt worden. Die Regierung legt, in Durchführung ihres Regierungsprogramms, dem Parlament Gesetzesentwürfe vor, die die Parlamentsmehrheit mit oder ohne Abänderung beschließen kann. Die Opposition hat das Recht der Kritik, macht allenfalls Abänderungsvorschläge oder verweigert die Zustimmung, aber die Regierungsvorlagen erhalten durch die parlamentarische Mehrheit ihre endgültige Fassung, denn die Kontrolle der Regierung beruht aui ;inem höheren Maß von Unabhängigkeit der Regierungsabgeordneten. Sehen die Statuten oder die Praxis der Regierungspartei eine solche Unabhängigkeit nicht vor oder wird durch die Auswahl der Regierungsmitglieder die parlamentarische Mehrheit ihrer führenden Köpfe beraubt, dann hat die Regierung keinerlei ernsthaften Widerstand gegen ihre Gesetzesvorlagen zu befürchten.

Dazu kommt, daß das Mißverhältnis zwischen dem technisch-fachlichen Apparat der Regierung und dem Parlament immer größer wird; in Österreich ist dieser Unterschied besonders kraß. Dieser Zustand führt zur Ausschaltung der parlamentarischen Gesetzesinitiativen, da den Abgeordneten der dafür nötige Stab an Gesetzestechnikern fehlt; es sei denn, daß sie von Interessenver-bänden diese Unterstützung erhalten.

Ein wesentlicher Beitrag zu diesem Niedergang der parlamentarischen Gewalt und ihres Ansehens bei den Wählern leisten , dazu die Massenmedien, Presse, Rundfunk und Fernsehen. Jede Regierung hat ihr dienende oder sogar von ihr herausgegebene Zeitungen, die die Aufklärung über die Regierungspolitik verbreiten können. Den Parlamenten steht die Presse für die Information über die Tätigkeit der Abgeordneten der Volksvertretung nur in dem Maß zur Verfügung, in dem Herausgeber und Mitarbeiter es für notwendig erachten. Die Regierung kann die Kenntnisse über ihre Tätigkeit auch durch bezahlte Inserate in den Zeitungen fördern, das Parlament nicht. In Rundfunk und Fernsehen wird, auch wenn es sich um Privatgesellschaften handelt, den Erklärungen von Regierungsmitglie-dem weit mehr Platz eingeräumt, als den Erklärungen von Abgeordneten. Für den Beweis demokratischer Haltung erscheint es ausreichend, wenn man gelegentlich Abgeordnete zu Stellungnahmen gegenüber Erklärungen von Regierungsmitgliedern und gegenüber Regierungsvorlagen zu Wort kommen läßt.

Der Unterschied wird dadurch gesteigert, daß Regierungsmitglieder ihre Erklärungen wohl vorbereitet und in ihrem dazu eingerichteten Arbeitsraum zu der von ihnen gewählten Zeit abgeben können. In der parlamentarischen Debatte lesen

Abgeordnete entweder wohl vorbereitete Manuskripte ab, was Zuhörer und Zuseher — auch bei kurzer Dauer — ermüdet, oder es kommt in der parlamentarischen Wechselrede zu erregten Formen der Diskussion, die nicht immer anziehend wirken. Das Regierungsmitglied, das Erklärungen abgibt, spricht aus der Kenntnis der ihm vorbereiteten Materie; in der Volksvertretung sitzen auch Abgeordnete, die mit der in Verhandlung stehenden Materie nicht so vertraut sind, daß sie dazu das Wort ergreifen oder langen Ausführungen aufmerksam folgen können.

Da die Parlamentssitzungen, auch in Österreich,' viele Tagesordnungspunkte behandeln und im allgemeinen zehn oder mehr Stunden dauern, sind nicht immer alle Abgeordneten auf ihrem Platz anwesend. An Sitzungstagen sprechen auch immer wieder Delegationen oder einzelne Staatsbürger vor, die von den Abgeordneten im Besucherzimmer oder in den Besucherräumen gehört werden, so daß sich diese außerhalb des Sitzungssaales aufhalten müssen. Dazu kommen auch Gespräche zwischen Regierungsmitgliedern und

Abgeordneten außerhalb des Sitzungssaales. Nach der parlamentarischen Geschäftsordnung unseres Nationalrates ist ein Mitglied der Bundesregierung nur verpflichtet, seinen Platz auf der Regierungsbank einzunehmen, wenn über einen in sein Ressort fallenden Gegenstand verhandelt wird. Mit Recht wird daher im Fernsehen nie eine schütter besetzte Regierungsbank, als Beweis für mangelnde Pflichterfüllung von Regierungsmitgliedern gezeigt. Leere Abgeordnetensitze sind jedoch ein beliebtes Objekt für die Fernsehübertragungen, ohne daß dem unin-formierten Zuseher gesagt wird, daß die im Saal fehlenden Abgeordneten außerhalb des Sitzungssaales Pflichten als Volksvertreter zu üben haben, wenn sie mit dem gerade in Verhandlung stehenden Gegenstand nicht beschäftigt sind. Es besteht daher der Eindruck, daß Regierungsmitglieder immer in voller Tätigkeit sind, die Abgeordneten aber zumindest einen Teil der Parlamentssitzung sozusagen zum Müßiggang benützen.

Durch diese Entwicklung ist die Teilung der Staatsgewalt gestört, vor allem das Gleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative. In Österreich haben die Abgeordneten weder eigene Arbeitsräume noch Hilfskräfte und schon gar nicht wissenschaftlich ausgebildete Fachberater zur Verfügung. Die Information der Wähler über ihre Tätigkeit kann nur mangelhaft erfolgen, da im Gegensatz zu den Trägern der Exekutive die Kosten nicht aus dem Budget bestritten werden. Jüngere Abgeordnete können sich erst durch langjährige Arbeit einen nicht zu übersehenden Platz in der demokratischen Gesellschaft sichern. Und auch diese sind überwiegend auf die Hilfe durch Organisationen und Institute angewiesen. In der demokratischen Gesellschaft verdrängt im Bewußtsein der Staatsbürger die durch die Regierung vertretene Exekutive immer stärker die Volksvertretung und ihre Abgeordneten von dem ihnen nach der Verfassung zukommenden Platz.

Dazu kommt, daß die Kontrolle der Regierungstätigkeit in der Öffentlichkeit ausschließlich von den Abgeordneten der Opposition, das heißt der parlamentarischen Minderheit, ausgeübt wird. Sie können jedoch von der stärksten Waffe des parlamentarischen Kontrollrechts, dem Verlangen nach Abberufung eines Regierungsmitglieds, nur demonstrativ Gebrauch machen, nicht aber sie erreichen.

Im Bewußtsein der Wähler wird daher die Regierung mit ihrem Behördenapparat immer stärker als die eigentliche und zugleich unantastbare Staatsmacht empfunden. Der Ausübung der Kontrollfunktion durch die Abgeordneten wie durch den Rechnungshof, wird wenig Beachtung geschenkt; in der, wenn auch grundsätzlich falschen, Ansicht, daß diese Akte der Kontrolle sowieso keine Erfolge haben, werden sie zumeist mit großer Teilnahmslosigkeit aufgenommen oder gar als Störung empfunden.

Dabei liegt der fundamentale Unterschied zwischen einem autoritären und einem parlamentarisch-demokratisch organisierten Regierumgs-system darin, daß die Kontrolle des

Volkes in der repräsentativen Demokratie durch die Volksvertreter, in der direkten Demokratie durch die Teilnahme der Wähler an der politischen Entscheidung wirksam ist. Sinkt die Wirksamkeit der Volksvertretung gegenüber der Exekutive im Bewußtsein der Wähler, dann entartet die parlamentarische Demokratie, das heißt das Selbstbestimmungsrecht des Volkes, immer mehr zu einer Fassade, hinter der die Staatsgewalt der Exekutive bestenfalls noch mit der Gerichtsbarkeit, aber nicht mehr mit der Volksvertretung tatsächlich geteilt wird. Wenn man einer solchen Entwicklung nicht von Anfang an entschieden entgegentritt, wenn sich nicht Frauen und Männer bereitfmden, in der Öffentlichkeit immer wieder ohne Rücksicht auf etwaige Folgen für ihre Person, sich gegen diese Entwicklung zu wenden, solange ihnen die Respektierung der Freiheitsrechte des Bürgers dazu das Recht und die Möglichkeit bieten, dann wird auch in den Staaten, die die parlamentarische Demokratie noch erhalten haben, die Ausübung der Staatsmacht immer stärker an die Regierung und ihren Behördenapparat übergehen.

Die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts des Volkes durch eine starke Volksvertretung, ist jener Generation am deutlichsten zum Bewußtsem gekommen, die in ihrer Jugend den Untergang der Demokratie durch eine Gewaltherrschaft erlebte und für die Wiederherstellung der Volksrechte einen leidvollen und opferreichen Kampf führen mußte. Das Ausscheiden der Männer und Frauen dieser Generation aus der demokratischen Öffentlichkeit, nicht nur aus dem parlamentarischen Leben, macht die Weitergabe dieser Lebenserfahrungen durch die nachfolgende Generation immer schwieriger. Die Weitergabe der Erfahrungen durch die lebenden und noch dazu fähigen Angehörigen der Wiederaufbaugeneration, erscheint daher immer notwendiger.

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