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Die Fronten wechseln, die Männer bleiben

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Die politische Landschaft Lateinamerikas ist wieder einmal in Bewegung geraten. Dabei geht es nicht um neue Probleme. Der ständige Wechsel zwischen Militärdiktatur und zivilen Kräften, das komplizierte Gleichgewichtsspiel und der Traum von der lateinamerikanischen Einheit sind aktuelle Themen seit der Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Länder vor etwa 150 Jahren. Es ist kein Zufall, daß bei dem kürzlichen Treffen zwischen dem venezolanischen Präsidenten Carlos Andres Pėrez und dem argentinischen Generalleutnant Jorge R. Videla immer wieder die Namen der „Befreier” Bolivar und San Martin genannt wurden. Obwohl es ein Wunder wäre, wenn Pėrez mit der Integration des Halbkontinentes Erfolg hätte, einem Unterfangen, an dem bisher noch alle gescheitert sind, läßt sich nicht verkennen, daß Carter und er neuen Sauerstoff in die stickige politische Atmosphäre der Militärdiktaturen Lateinamerikas gepumpt haben. In Ekuador wird das Volk vor den Präsidentschaftswahlen zunächst zwischen zwei Verfassungsentwürfen entscheiden. In Perü sollen gegen Ende dieses Jahres Wahlen stattfinden. 1980 wollen die Generäle endgültig ihre Macht an die zivilen Kräfte abtreten. Nach einer Reihe von Gesprächen zwischen dem Präsidenten General Francisco Morales Bermüdez und den Parteien, einschließlich der kommunistischen, werden bereits als Präsidentschaftskandidaten der 1968 gestürzte Präsident Fernando Belaünde Terry und der frühere Oberbürgermeister von Lima, Lufs Bedoya Reyes, genannt. Wie sehr die diktatorische Flut verebbt, sieht man ganz besonders in Argentinien. Obwohl dort der Terror anhält und Skandal-Affären die Stabilität des Regimes gefährden, hat sich der Präsident Generalleutnant Videla verpflichtet, zur pluralistischen zivilen Demokratie zurückzukehren. Als , Auftakt werden Besprechungen mit den Vertretern der Parteien, der Gewerkschaften und der Unternehmer für Juni angekündigt. Fürs erste sollen Kommunalwahlen abgehalten -werden. Inwieweit die neue Demokratisierungswelle von Carter und Pėrez verursacht oder nur beschleunigt wurde, ist schwer festzustellen.

Am wichtigsten für den ganzen Kontinent bleibt die Entwicklung in Brasilien, wo General Geisel nach dem Vorbild der Echternacher Spring-Prozes- sion auf dem Wege zur Demokratisie rung zwei Schritte vorwärts und einen rückwärts tut. In Brasilia war man empört, als der Unterstaatssekretär Terence Todman in Caracas erklärte, Carter sei nicht bereit, die Politik der Regierungen Nixon und Ford fortzusetzen, derzufolge Brasilien die lateinamerikanische Führungsmacht sei, der die anderen Regierungen zu folgen hätten. Todman deutete diese Meldung als „Übersetzungsfehler”, was ihm niemand abnahm. Aber es gab keinen Bruch, sondern eine vorsichtige Wiederannäherung. Der Einschluß Brasiliens in die Liste der Länder, die Menschenrechte verletzen, die scharfe Ablehnung der Militärdiktatur und der aggressive US-Widerstand gegen den deutsch-brasilianischen Nuklearvertrag hatten die Beziehungen zwischen beiden Mächten auf ihren Nullpunkt hinuntergeschraubt. Gleichzeitig hatte die Form, in der sich Pėrez in bezug auf die Menschenrechte und die atomare Auseinandersetzung auf die Seite der USA gestellt und Carter umgekehrt Venezuela und Mexiko als „Demokratien” gepriesen und zu den „Sprechern” des Halbkontinents” ernannt hatte, überall in Lateinamerika die Vorstellung erweckt, daß Venezuela die Führungsrolle auf dem Kontinent an Stelle Brasiliens anstrebe und einen Block der spanischsprechenden Länder gegen das portugiesischsprechende Brasilien bilden wolle. Um so größer war die Überraschung, als Pėrez erklärte, Lateinamerika könne nicht ohne Brasüien und Brasilien nicht ohne den Rest Lateinamerikas existieren, es gebe keine andere Lösung als die Integration. Nicht minder erstaunlich ist, daß er die von den USA versuchte Blockbildung gegen Brasilien „einen nordamerikanischen Irrtum” nannte, durch den die USA sich von Lateinamerika getrennt hätten. Er ging sogar soweit, Nordamerika vorzuwerfen, daß es eine ungerechte und gefährliche Herrschaft über die Souveränität der lateinamerikanischen Staaten, vor allem auf wirtschaftlichem Gebiet, ausübe. Warum Pėrez das Ruder von einem pro-amerikanischen zu einem anti-amerikanischen Kurs herumgeworfen hat, ist vorläufig ein Rätsel.

Der schnelle Wechsel der Positionen im lateinamerikanischen Dominospiel beweist, wie unberechenbar die inneramerikanische Politik geworden ist.

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