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Die Fußballweltmeisterschaft befriedigt tiefe archaische Wunschvorstellungen

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Wenn die eigene Fußballmannschaft irgendwo auf einem fernen Kontinent einen für mächtig gehaltenen Gegner besiegt, dann sind in jeder Schenke jedes Dorfes in der Heimat die Männer glücklich. Wenn die lieben, umschwärmten, verzärtelten Fußballspieler verlieren, dann bricht für die kleine Männerwelt im Wirtshaus eine Welt zusammen. Vorwürfe, Beschuldigungen, Verdächtigungen werden ausgesprochen; mächtig toben da der Zorn und die Verzweiflung. Zur Zeit der gegenwärtigen Fußballmeisterschaft in Argentinien brechen atavistische Triebe auf,

aus verschütteten Quellen springen Leidenschaften hervor, aus der Verdrängung durch das rationale Weltbild einer utilitaristisch ausgerichteten Gesellschaft erhebt sich mit Kraft der archaische Mensch.

Warum ist die Frage nach Sieg oder Niederlage so wichtig? Weil sich die Gemeinschaft mit den Kämpfern identifiziert. Das Kollektiv bildet eine neue Qualität, die ihre eigenen Gesetze hat: Leidenschaft wird durch die Gemeinsamkeit des Empfindens potenziert, die Grenzen der gewohnten Einsamkeit werden aufgehoben, eine Konzentration findet statt: eine Konzentration des Einzelnen auf das Ergebnis des Wettkampfs, eine Konzentration der ganzen Gruppe auf ein einziges Ereignis. So verwandelt sich Gruppe, vorübergehend, in Gemeinschaft Das Kollektiv gelangt durch die Metamorphose zu einem neuen Aggregatszustand. Die Sprache erhellt den Zusammenhang zwischen Schwärm und schwärmen.

Durch das Fernsehen ist dieser Prozeß beschleunigt worden; er hat zudem eine größere Intensität erreicht und auch eine Beteiligugng von viel mehr Menschen am kultischen Ereignis ermöglicht. Eine qualitative Änderung in der Rezeption des Kampfes hat es indessen nicht gegeben. Die Erneuerung vollzieht sich im Quantum. Denn Wettkämpfe dieser Art waren bereits im zweiten vorchristlichen Jahrtausend Schau-Spiele gewesen mit der archaischen Rollenverteilung zwischen den Aktiven und den Passiven.

Aktiv waren und sind die Mannschaften, die einzelnen Fußballer, die Betreuer und die führenden Figuren des Kultes. Sie gewinnen in der kollektiven Phantasie die Eigenheiten mythischer Gestalten. Das Mythos aber hat sein Eigenleben, besitzt eine Gesetzmäßigkeit ganz eigener Art. In das Mythos werden Dinge miteinbezogen, die außerhalb der Ratio liegen und nur für das fühlende Erfahren der Welt einen Wert besitzen.

Einen solchen gefühlsmäßigen Wertzuwachs konnte sich der argentinische Fremdenverkehr und auch die argentinische Staatsführung zunut-

zemachen. Plötzlich wendet sich das Interesse einem Lande zu. Der vorläufig tadellose Verlauf der Meisterschaft zeugt nicht nur von Ruhe, sondern auch von der Fähigkeit, komplizierte Vorgänge zu organisieren. Ruhe und Organisation sind aber zivilisatorische Werte: in ihnen kommt eine gesellschaftliche Qualität zum Ausdruck, nämlich der Triumph des Menschen über das Chaos. Der Zuschauer identifiziert sich nicht nur mit den Schau-Spielern selbst, sondern auch mit der Szenerie des Spiels: er ist ja in Gedanken dort, in der Arena. Seine Phantasie führt ihn nach Argentinien. Kein Wunder, wenn er dann Lust hat, dem Phantasiebild zu folgen und eines Tages selbst nach Argentinien zu reisen.

Aber auch der Präsident der Republik vermochte, bei der Eröffnung, eine kultische Rolle zu spielen. Er, der

die wir in uns tragen, entsprechen. Der Umzug ist ein symbolischer Akt, der den Kreislauf der Gestirne, der Jahresund Tageszeiten zu simulieren hat. In der analogen Handlung liegt die Hoffnung, der Mensch könnte die kosmischen Kräfte auf diese Art und Weise bewegen, ihre lebenserhaltende Funktionen weiter auszuüben. Auf dem Fußballplatz von Buenos Aires wurden auch die Fahnen der an den Wettkämpfen beteiligten Nationen mitgeführt: Symbole der nationalen Identität. Als Teil für das Ganze hatten sie zu bewirken, daß der Segen nicht nur die Fahnenträger oder die Schau-Kämpfer treffe, sondern die ganze Nation.

Von nun an standen (und stehen) die Fußballer im Mittelpunkt des Geschehens. Man wül sie sehen, auch wenn sie in der TV nicht zu sehen sind, also schneidet man ihre Bilder aus und klebt sie an die Wand. Man will von ihnen hören, und zwar- das ist es eben! -möglichst Persönliches. Denn mit dem heeren Helden, dem übermenschlichen, vermag man sich nicht zu identifizieren. Man muß seine menschliche

beliebten Gesprächsthema geworden ist. Manches wurde zur deftig-trivialen Anekdote. Die Zote ist in solchen Fällen ein seltsamer Versuch, sich dem geheiligten Gegenstand wenigstens verbaLzu nähern.

Die. gleichen Motive machen die Konflikte zwischen den Idolen so sehr interessant. Wenn zwischen Merkel und Senekowitsch wütender Streit tobt, wenn Sekanina eingreift oder sich zurückhält, wenn die Spieler in irgendeiner Weise Partei ergreifen, dann hat das im Augenblick keine geringere Bedeutung als der Streit der Götter in der homerischen Dichtung. Die Hierarchie der übermenschlichen Mächte beschäftigt die Phantasie, denn auch diese Uber- und Unterordnungen geben Gelegenheit zur Identifikation. Es ist tröstlich zu wissen, daß selbst die Idole mitunter unter einem ihnen überlegenen Willen zu leiden haben. Achill ist dem Apollo genauso ausgeliefert wie Prohaska dem Senekowitsch. Auch Idole können aufgestellt oder nicht, aufgestellt werden, abberufen oder sogar gesperrt. Die mythische Bedeutung der gelben und der roten Karte in der Hand des Schiedsrichters Zeus wäre- eine eigene Betrachtung wert. Und welch eine phantasiebewegende, auf Befreiung drängende Kraft liegt im Bild: Das gesperrte Idol.

Die Festkampfspiele geben dem Zuschauer auch noch andere Möglichkeiten, wenigstens im Augenblick über sich selbst hinauszuwachsen. Durch die Rollenverteilung verfällt er in den angenehmen Zustand einer bequemen Schizophrenie. Der eine Teil der Seele stürmt und verteidigt, der andere Teil genießt das Gefühl, nicht wirklich stürmen und verteidigen, sondern bloß zusehen zu müssen. Man nimmt intensiven Anteil an der Wirklichkeit, ohne Verantwortung, ja ohne irgendwelche Folgen. Man kann als Nationalmannschaftverlieren, aber nicht als Einzelperson. Das 1: 5 gegen Holland konnte als Schmach empfunden werden, jedoch kein Zuschauer mußte deshalb tot umfallen wie vom Blitz getroffen.

Das Zuschauen sichert dem Passiven sogar einen gewissen Vorteil dem Aktiven gegenüber: Der Zuschauer darf außer sich geraten, der Zur-Schau-Gestellte muß ruhig bleiben, diszipliniert, frei von Stimmungen, möglichst sogar gelassen. Das führt zu einem merkwürdigen Paradoxon. Der Aktive muß nicht nur die Härte des Spiels, sondern auch die Unmöglichkeit erleiden, sich emotionell auszutoben; der Passive aber ist unverletzlich, für die Tritte des Gegners unerreichbar, und zugleich auch noch in der Lage, spontane Leidenschaften auszuleben. Der Eindruck entsteht,

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