6900825-1980_26_14.jpg
Digital In Arbeit

Die Fußspur Gottes

Werbung
Werbung
Werbung

Wer nie vor den Toren Jerusalems Stand, wer nie durch seine Straßen ging, wer nicht weiß, was es heißt, seine Steine mit Schritten zu liebkosen, seine rosa Mauern mit Fingern zu berühren und zu dem Himmel über der Stadt zu blicken, der wird es kaum begreifen, daß man eine Stadt so lieben kann, wie die Mutter, wie eine Geliebte, wie das, was einem in der Welt das teuerste ist.

Wenn es jemandem überhaupt gelingen kann, auch die, die all dies nicht erlebt haben, dem Verständnis um einen Schritt näher zu bringen, dann ist es, glaube ich, mein Freund David. Er liebt nämlich Jerusalem genau wie ich, ist aber ein Dichter und findet jedesmal das Wort, das mir fehlt, und entdeckt immer ein neues Bild, das ich früher nicht sah. Deshalb gehe ich so gern mit ihm in den Gassen Jerusalems und auf den Hügeln rings um die Stadt spazieren.

Wo andere nichts als kahle Abhänge sehen, an denen Wälder längst abgeholzt wurden, dort sehen Davids von Liebe gesegneten Augen die Schönheit der runden Nacktheit einer liegenden Frau.

„Die Königin schläft”, sagt er zum Beispiel „mit der Krone der Schanzmauer am Kopf. Und ihr gelockertes Haar liegt auf dem Sand des Gebirges Moab wie auf einem Seidenkissen.”

„Und so fließt hier alles zusammen”, sagt er weiter „so verschmilzt hier eins mit dem anderen, Stein mit Stein, Jahrhundert mit Jahrhundert, der Staub der Könige mit dem Staub der Bettler, das Gebein der Helden mit dem der Feiglinge. Reiche mit Armen, Propheten mit den Simpeln, die Weisen mit den Törichten. Und alle, brauchte diese Stadt, die genau so wie jene, und nur Gott weiß, wozu wer nötig war.”

Oder gehen wir an einer jener Stellen vorbei - und es gibt hier solche nicht wenige - wo sie die Erde öffneten und gruben und entdeckten Gestern über Vorgestern und darunter eine noch tiefere Zeit, und David sagt:

„Was alles in dieser Tiefe perlt wie Blutkörperchen in den Adern! Schachte, Gänge, Gruben, Durchwege, Gassen über Gassen, verschüttete Brunnen, verlassene Flure, Mauern ohne Ausgang und Tore ohne Häuser, und wo immer ein Spaten eine verdorrte Scholle entblößt, da liegt ein rostiger Helm und Reste uralter Gebetsmäntel, und du weißt nicht, hebst du die Münze auf, die jemand einer Witwe gab, oder die, die ein Söldner verhurte, und alles, das alles ist Jerusalem.

Wie ein von Wellen der Zeit ausgewaschener Korallenbusch ist der Haufen der Totenköpfe, die alle zusammenwuchsen, die Heiligen und die Sünder, Mörder und ihre Opfer, Kinder und Greise, die Demütigen und die Widerspenstigen, die Gelehrten und die, die nicht zu fragen wußten.”

Manchmal spricht David von einem tausendmal verknotetem Knäuel, ein anderes Mal von einem aus Gebeten und Fluchen gewobenen Teppich, der nie zu Ende geknüpft wurde, dessen Farbe aus der Farbe des Blutes und der Farbe des von Schweiß durchtränkten Bodens und den Tränen unzähliger Geschlechter gemischt wurde.

Die Bilder, die mir David entdeckt, nehmen nie ein Ende. Einmal liegt Jerusalem vor uns wie ein nie zu Ende geschriebenes Buch.Und nächstens ist es wie eine fliegende Taube, die über den Wassern der Sintflut hoch, ganz nahe dem Himmel, schwebt und ein grünes Ästchen sucht.

Manchmal ähnelt es der warmen Handfläche einer Mutter auf dem Kopf eines jammernden Kindes, und ein anderes Mal einem Nest, das eingekeilt in das Gezweige der Zeit in der Höhe ruht. Und manchmal einem eingefaßten Brunnen, in dessen Tiefe man immer wieder den verlorenen Ring suchen muß, der irgendwo auf dem Grund liegt, und ein anderes Mal wieder dem Siegel auf einem Brief, in dem das Losungswort geschrieben ist, das uns die

Pforte öffnen wird, zu der wir am Ende des Weges kommen werden.

In einer klaren Sommernacht gingen wir wieder einmal auf den Hügeln spazieren, und plötzlich stand Jerusalem vor uns, als ob es soeben aus der Tiefe gewachsen wäre, und David sagte:

„Ist diese Stadt nicht wie ein Schiff vor dem Hafen, mit Ketten von Lichtern beleuchtet, wenn es vor Anker geht?”

„Und ist der Himmel nicht wie der ruhigste Meeresspiegel, in dem sich die Lichter des Schiffes abspiegeln?” überraschte ich mich plötzlich selbst.

Und dann gingen wir lange schweigend weiter, bis David etwas sagte, worüber ich seit jener Nacht immer wieder denken muß, und das ist es eigentlich, warum ich euch das alles erzähle.

„Kannst du dir vorstellen”, sagte er „daß all diese Herrlichkeit jemandem aus dem Gedächtnis so entschwinden kann, wie Wasser von dem Gefieder einer Ente herabfließt? Kannst du dir vorstellen, daß jemand dieser Schönheit widerstehen könnte? Ich wenigstens glaube, daß sogar der liebe Herrgott nicht anders kann, als von Zeit zu Zeit in die Straßen Jerusalems zu kommen, durch sie zu schreiten und über der Stadt stehen zu bleiben und sie bewundernd zu betrachten.”

„Da hätten wir, die da öfter als wer anderer spazieren, ihm schon bestimmt begegnen müssen”, lachte ich. Doch David blieb ernst:

„Vielleicht haben wir ihn auch gesehen und haben ihn bloß bisher nicht erkannt.”

Bisher. Ich merkte das Wort gut und es blieb so tief in mir stecken, daß ich seit der Zeit lange in das Gesicht jedes alten Mannes schaue, dem ich in den Straßen Jerusalems begegne, bei den Toren der Stadt oder vor ihnen. Doch warum sollte er gerade die Gestalt eines alten Mannes annehmen? Warum könnte er nicht genau so gut hinter dem Antlitz eines jungen Mannes verborgen sein? Ja, sogar hinter dem Antlitz einer schönen Frau oder der zarten Gestalt jedes Knaben?

Vielleicht werde ich ihm nicht begegnen, wenn er sich mir nicht selbst erkennen läßt. Aber nicht zu gehen und nicht zu suchen! Wenn Gott wirklich nicht widerstehen kann und von Zeit zu Zeit in die Straßen Jerusalems kommen muß, wie könntest du widerstehen und seine Fußstapfen nicht suchen?

Unlängst, wie wenn er meine Gedanken ahnte, sagte wieder mein Freund David:

„Manchmal scheint es mir, daß Jerusalem überhaupt keine Stadt sei, sondern eine Fußspur Gottes. Die einzige Spur eines Schrittes, vor dem und nach dem es keine andere Spur gab.”

Ich gebe zu, ich weiß nicht gut was damit anzufangen, aber trotzdem ist mir unter Davids Metaphern auch diese teuer. Und vielleicht sogar teurer als alle anderen.

Avigdor Dagan, Schriftsteller und Diplomat, ist Altösterreicher. Er ist in Brünn zur Welt gekommen und hat sich als Lyriker einen Namen gemacht. Er lebt nun in Jerusalem und schreibt auf Tschechisch und auf Deutsch. Im nächsten Jahr erscheint im Ullstein-Verlag sein neuer Roman. Zuletzt war Avigdor Dagan Botschafter des Staates Israel in Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung