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Die Gegengeschichte von Friaul

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It contrari de veretät a je la bau-sie - das Gegenteil von Wahrheit ist die Lüge. Mit diesem Gedanken wird die kürzlich erschienene erste „Gegengeschichte von Friaul“ eingeleitet. Zwei friula-nische Geistliche sind die Verfasser: pre Josef Marchet (gestorben 1966) und pre Checo Placerean, der charismatische Vater des friulani-schen Autonomismus, beide Ideologen der friulanischen autonomi-stischen Bewegung der Geistlichen .Glesie furlane' (friulanische Kirche). Diese Bewegung entstand 1967, als 529 Geistliche mit einem offenen Brief sich weigerten, sich politisch mit der Democrazia Cri-stiana zu identifizieren, und sich von deren Politik in Friaul distanzierten, da diese ihrer Meinung nach die kulturelle Identität des friulanischen Volkes zu wenig berücksichtigte.

Nach dem Erdbeben haben sich die Publikationen über Kultur und Geschichte von Friaul derart vermehrt, daß die Schaufenster aller Buchhandlungen in Udine kaum mehr Platz haben, sie alle auszustel-

len. Nach dem Erdbeben haben auch die großen italienischen Parteien Friaul entdeckt: Die Democrazia Cristiana veranstaltete Seminare über die furlanische Sprache und Kultur und verspricht Schutz, besonders bei bevorstehenden Wahlen; die KPI tritt sogar für den Furlani-Unterricht in den Schulen ein.

Das hatte pre Checo Placerean bereits wenige Tage nach der Erdbebenkatastrophe vorausgesagt: „Erst in zehn Jahren werden wir einschätzen können, ob das Erdbeben ein Übel oder ein Wohl für Friaul gewesen ist.“

Die Broschüre „Cuintristorie“ -in einem lebhaften, volksnahen Furlani verfaßt, wie es im Raum Gemona zu hören ist - geht bei der Schilderung von zweitausend Jahren friulanischer Geschichte von drei Voraussetzungen aus, und zwar, daß es eine friulanische Volksgruppe gibt, daß Friaul während der Zeit des Patriarchats von Aquileja unabhängig, frei und glücklich war, und, nachdem das Patriarchat 1751 ohne Rechtfertigung abgeschafft wurde, daß es Friaul nie schlechter ergangen ist als seit 1866, dem Jahre der „italienischen Invasion“.

Seit der römischen Zeit gelang es dem friulanischen Volk, trotz verschiedener fremder Herrschaften bis heute seine Eigenschaften, seine Kultur und Sprache zu erhalten, so

tief verwurzelt sind sie in seiner ethnischen Wirklichkeit. Die glücklichste Zeit für Friaul war die des patriarchalen Staates bis 1420, mit Patriarchen deutscher Herkunft, von denen es christlich regiert wurde und Eigenständigkeit und Freiheit gewährleistet waren. Die Verfassung des patriarchalen Staates „Costituzions de Patrie dal Friul“ könne den Vergleich mit der englischen .Magna Charta libertat-um' aushalten, meinen die Verfasser.

Nach der Abschaffung des patriarchalischen Staates regierten nur mehr italienische Patriarchen.

Das erste große Unrecht mußte Friaul mit der willkürlichen Abschaffung des Patriarchats durch Papst Benedikt XIV. hinnehmen. Damals wurde von einem Teil des friulanischen Klerus der Spruch geprägt: „Restituzione o dannazio-ne!“ (Rückgabe oder Verdammnis!), was als historisches Erbe bis in das Gedankengut von ,Glesie furlane' eingegangen ist: Mehr Autonomie für die friulanische Kirche und Recht auf den liturgischen Ge-

brauch des Furlanischen. Pre Josef Marchet versichert, daß 1866 die Friulaner von „Invasion“ sprachen und nicht von „Befreiung“ durch die Italiener, wie die Geschichtsbücher berichten.

Für den Zeitraum von 1866 bis zum Erdbeben nimmt pre Checo Placerean das Wort: Bereits seit einem Jahrhundert versuchen die Italiener, das Land zu kolonisieren, aber nur mit teilweisem Erfolg. Es kamen der Faschismus mit seinem Italianisierungsdruck, der Krieg, die Nachkriegszeit, während deren Friaul weiter ein unterentwickeltes Land gebheben ist, und der italienische Staat nur Kasernen gebaut hat (Friaul ist wegen seiner Nato-strategischen Lage die Region mit den meisten Kasernen in Italien), und zuletzt auch noch die Tragödie des Erdbebens, traurige Aktualität in Friaul. Das friulanische Volk ist aber, verkündete Placerean, kampfbereit und willens, jeden Versuch, mit dem Wiederaufbau das Furlanische zu entarten, energisch abzulehnen, denn das friulanische Bewußtsein ist heute stärker denn je.

Die .Cuintristorie' will damit auch behaupten: „H popul furlan al fe-vele une lenghe e i parons un'ätre“, was zu deutsch heißt: „Das friulanische Volk spricht eine Sprache, und die Herren eine andere.“

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