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Digital In Arbeit

Die Gegensätze zwischen Arbeit und Bildung

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Divergenzen in bildungspolitischen Auffassungen gehen nicht zuletzt auf die Unklarheit der Gleichheitsideale zurück. Da ist zunächst die Forderung nach der Chancengleichheit. Sie entspricht dem Gedanken, daß alle Menschen von Geburt aus gleichrangig seien und keiner in seiner Entwicklung gehemmt werden dürfe.

Um die Chancengleichheit zu verwirklichen, dachte man und denkt man auch an Wege, die nicht nur gleichwertig, sondern gleichartig angelegt sein sollen. Dazu gehört die Parole, möglichst alle Kinder an höhere Schulen zu schicken, oder - was nun aktueller Diskussionsstoff ist - die Unterstufe der höheren Schulen abzuschaffen und durch Gesamtschulen zu ersetzen.

Das Dilemma des ersten Weges läßt sich unschwer erkennen; Eltern und Schüler verbinden mit der Matura auch berufliche Vorstellungen. Erfüllen sich diese nicht, kommt es zu bitterer Enttäuschung. Verantwortungsbewußte Politiker sollten die Sprengkraft dieser Frustation nicht unterschätzen.

Die Gesamtschulidee bemüht sich, die Chanchengleichheit anders herum zu verwirklichen, indem sie die unterschiedlichen Mittelstufenformen (Untergymnasium und zweizügige Hauptschulen) abschafft Bis gegen Ende der Schulpflicht sollen alle die gleiche Schule besuchen Da Lehrer und Eltern jedoch wissen, daß die Kinder an Interessen, Fleiß und Anlagen nicht wahrhaft gleich sind, differenziert man in Leistungsgruppen und konkurrenziert die Schüler sogar innerhalb ihrer Klassen statt durch unterschiedlich organisierte Schultypen. %s gibt eine Geschichte von einer Kröte, die zum Nachdenken anregt.

Im Linzer Programm der österreichischen Sozialdemokratie aus dem Jahre 1926, das als besonders revolutionär gilt, findet sich zur Kulturpolitik sinngemäß folgende, offenbar von Otto Bauer formulierte Aussage: Wir kämpfen für eine Gesellschaftsordnung, die die Kultur der wenigen nicht auf der Kulturlosigkeit ausgebeuteter Massen gründet, die das Kulturerbe (!) dem ganzen Volke zueignet, das ganze Volk zu einer Kulturgemeinschaft verknüpft..., eine Gesellschaftsordnung, die die manuelle wie die geistige Arbeit erhebt zum Dienste an der Volksgemeinschaft

Wenn die Sozialdemokraten damals unter ihrem unvergeßlichen Bü-dungspolitiker Otto Glöckel an eine Einheitsschule gedacht haben, so waren dafür zwei Gründe maßgebend: Die relativ geringe Zahl der Gymnasien, durch die diese Schulen aus Gründen regionaler und sozialer Diskriminierung die Scheidung des Volkes in Bildungsklassen eher vertieften als überbrückten, und die Einsicht Glöckels in die erzieherische Notwendigkeit manueller Arbeit.

Die gegenwärtige Regierung hat gigantische Anstrengungen unternommen, durch die Steigerung des Schulbaus und der Sozialhüfen die Bilduhgsgüter breiter zu streuen. Annähernd 200 mittlere und höhere Lehranstalten sind entstanden oder im Entstehen begriffen - gegenüber einer einzigen in der Ersten Republik. Eine soziale Diskriminierung gibt es nicht mehr. Von der Quantität her ist alles Menschenmögliche getan. Was nun folgen muß, um das Kulturerbe dem ganzen Volke zuzueignen, das ganze Volk zu einer Kulturgemeinschaft zu verknüpfen, das ist, die Gegensätzlichkeit zwischen Arbeit und Büdung zum Verschwinden zu bringen. Die innere Reform fehlt noch, eine Reform, die nach Behutsamkeit verlangt, nicht nach lautstarker Konfrontation, nach Erfahrung, nicht nach Dilettantismus, nach Liebe zum Volk und zu unserer Jugend, nicht nach einer Ausrichtung auf Standesinteressen oder wirklichkeitsfremde Theorien.

Formulierte die Schulreformkom-

mission noch vor etwa zehn Jahren rein intellektuelle Bildungsziele, so werden heute Charakterstärke und praktische Fähigkeiten in den Vordergrund zu treten haben. Die Hinterfra-ger von einst müssen es sich gefallen lassen, selbst hinterfragt zu werden; die Kritik um jeden Preis hat offenbar in zu enge Nachbarschaft zu Neurosen geführt.

Bildung und Ausbildung dürfen in Zukunft nicht mehr getrennte Wege gehen, um Gymnasiasten nicht in Sackgassen zu steuern. Österreich hat mit der Entwicklung berufsbildender höherer Schulen einen klugen Schritt in der Richtung auf diese Fusion hin getan. Jetzt gilt es, einen zweiten zu wagen, nämlich die Oberstufen allgemeinbildender höherer Schulen mit

berufsbildenden Elementen anzureichern. Die dazu nötige Zeit läßt sich dadurch gewinnen, daß man darauf verzichtet, Gymnasien (und deren Kopien in den Hauptschulen) zu Minifakultäten zu machen; daß man Unterrichtsfächer, die vom Inhalt her zusammengehören, wie die naturwissenschaftlichen, die gesellschaftswissenschaftlichen und die kulturwissenschaftlichen, in Bildungseinheiten zusammenfaßt; daß man, durch eine solche Lehrfächerintegration gezwungen, endlich zur Entrümpelung schreitet, zu jenem Sichten und Lichten, von dem dreißig Jahre lang gesprochen wurde, ohne daß Taten folgten.

Eine Reduktion des Notensystems auf zwei Wertungen (mit Erfolg - ohne Erfolg) scheint ebenfalls diskutie-renswert: Dadurch ließe sich Gruppenunterricht praktizieren, der die Erziehung zur Gemeinschaft fördert, die sowohl im herkömmlichen System, noch mehr aber in den der Leistungsgruppendifferenzierung völlig ver-

nachlässigt wird. Außerdem steigert er die Aktivität und die Interessen.

In den Kommunikationsfächern, nämlich den Sprachen und in Mathematik, wird der herkömmliche Leistungsdruck bleiben müssen, um größtmögliches Gehirntraining zu garantieren.

Das Schlimmste an unseren Schulen ist deren Praxisferne. So manches Sorgenkind des Hauptschul-B-Zuges könnte erstaunliche Leistungen vollbringen, wollte man von ihm nicht das Nachsagen von Schulweisheiten verlangen, sondern manuelle Geschicklichkeit Dazu fehlt es jedoch an allem: An Einrichtungen, an Lehrern, am Können und an der Tradition. Deshalb gibt es keine Chancengleichheit, die wichtiger ist als Gleichheit, weü die praktisch Begabten in unseren Schulen chancenlos bleiben.

Höhere Bildung in einem Gymnasium abschließen zu wollen, bleibt eine Illusion. Für vieles wird erst der reifere Mensch empfänglich. Deshalb muß mit allem Nachdruck gefordert werden, endlich den sogenannten Zweiten Bildungsweg zu straffen, zu modernisieren und auszubauen.

Die gleiche Forderung muß für die Studienberechtigungsprüfung erhoben werden, die jedermann Gelegenheit geben sollte, seine Kommunika-, tionsfähigkeit und sein Fachwissen auf jeden Gebieten nachzuweisen, auf denen er ein Universitätsstudium zu beginnen wünscht.

Das Wesentlichste von allem wäre wohl der Aufbau einer ORF-Akademie, die umfassende Lehrgänge anbietet, die, medientechnisch aufgearbeitet und systematisch geordnet, das gesamte Bildungsangebot höherer Schulen- umspannen.“'.

Das Wachstum'“der Produktion materieller Güter stoßt an, natürliche Grenzen. Was tatsächlich wächst, ist die Freizeit - heute fehlgeleitet in die Arbeitslosigkeit einzelner, in Zukunft gerechter verteilt durch die Verkürzung der Arbeitszeit Die höchste politische Aufgabe besteht darin, einen Bildungshunger zu erwecken und kluge Vorsorge zu treffen, ihn zu stillen; Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik verschmelzen ineinander.

Die Elektronik bietet ungeahnte Möglichkeiten. Die große Hoffnung, das Kulturerbe allen zuzueignen, das ganze Volk zu einer Kulturgemeinschaft zu verknüpfen, ist keine Utopie mehr. Müßte sich für eine solche bü-dungspolitische Zielvorstellung nicht ein Konsens finden lassen?

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