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Die geistige Waffe Buch

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Sensation zum Heidelberger Universitätsjubiläum: Bestände aus der „Mutter aller deutschen Bibliotheken“ kehrten für vier Monate von Rom heim nach Deutschland.

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Sensation zum Heidelberger Universitätsjubiläum: Bestände aus der „Mutter aller deutschen Bibliotheken“ kehrten für vier Monate von Rom heim nach Deutschland.

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1621 richtete Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz, als „Winterkönig“ von Böhmen in die Geschichte eingegangen, aus seinem holländischen Exil an seine Räte in Heidelberg den dringenden Befehl, Archiv und Bibliothek vor dem Feind — den vordringenden Truppen der Katholischen Liga — in Sicherheit zu bringen.

Während der Befehl, was das Archiv betraf, sofort befolgt wurde, blieb die „Bibliotheca Palati-na“, die als „Mutter aller deut-

sehen Bibliotheken“ geltende wertvolle Büchersammlung, in der Heidelberger Heiliggeistkir-che. Wegen der „grosse und menge der bücher“ und weil man sich zunächst noch sicher fühlte, zögerte man — trotz eines weiteren diesbezüglichen Befehles des Winterkönigs an seinen Hof — so lange, bis es zu spät war. Am 15. September 1622rückte der bayerische Feldherr Johann Tserclaes von Tilly in Heidelberg ein.

Tatsächlich hatte man auf katholischer Seite in diesen ersten Jahren des Dreißigjährigen Krieges bereits mehr als ein Auge auf die Schätze der Pfälzischen Landesbibliothek geworfen. Papst Gregor XV. beanspruchte die Heidelberger Bücher für den Vatikan und setzte dafür alle diplomatischen Hebel in Bewegung. Dabei spielte nicht nur der Wert alter Handschriften eine Rolle, sondern auch die Überlegung, den Glaubensfeind um das geistige Rüstzeug zu bringen.

So war schon im Juli 1622 der päpstliche Nuntius Guido di Ba-gno per Brief an Tilly herangetreten, sich im Falle der Einnahme von Heidelberg der Palatina zu bemächtigen. Die Bibliothek sei durch Bücherraub der pfälzischen Fürsten aus Klöstern entstanden, die Übernahme durch den Papst solle der Ketzerei die Waffen nehmen.

Maximilian I. von Bayern war gerade um finanzielle Hilfe des Papstes und um politische Unterstützung im Kampf um die Kur-würde bemüht und beugte sich dem Wunsch des Papstes. Leo Al-laci, päpstlicher Gesandter, hatte als ungebetener Gast in Heidelberg die Aufgabe, den Büchertransport zu organisieren.

50 Frachtwagen mit 8000 Büchern, bewacht von 60 Musketieren, verließen Mitte Februar 1623 Heidelberg und zogen durch verheertes, verödetes Land nach Bayern. Allaci und ein Korporal gingen voran und waren sich der ständigen Gefahr eines Uberfalls feindlicher Soldaten bewußt. Zudem erschwerten Eis und Schnee den Transport. In Neckarsulm kam eine starke Militärpatrouille, 100 Reiter und 200 Musketiere, hinzu. Das Gerücht ging um, der ehemalige Bibliothekar der Palatina sei von Tübingen aus auf dem Weg und plane die Rückeroberung des Bücherschatzes. Schließlich erreichte Allaci erleichtert Donauwörth und damit bayerisches Gebiet.

In München bereitete Allaci zwei Monate lang den Transport über die Alpen vor, dann ging es weiter. Keine Probleme gab es in Tirol, nur einmal griffen bewaffnete Räuber an, zogen sich aber rasch zurück, „als man mit Feuergewehren, welche dieselben nicht besaßen, sich zur Gegenwehr rüstete“.

Aufgrund protestantischer Unruhen im Engadin wählte man den Weg durch das Graubündner Münstertal und blieb fast zwei Wochen im Schnee stecken, der zu schmelzen begann und die Rosse nicht mehr trug. Uber den Corner See, Mailand, Bologna und Florenz gelangte Allaci mit seiner kostbaren Fracht erst am 9. August 1623 nach Rom. Dort erwartete ihn, da Papst Gregor XV. inzwischen gestorben war, keine Auszeichnung, sondern die Anklage eines neidigen Kontrahenten: Allaci habe privat wertvolle Bücher beiseite geschafft.

Seither sind 363 Jahre vergangen — die Palatina mit ihren Kostbarkeiten, etwa dem Falkenbuch des Stauferkaisers Friedrich II., der byzantinischen Josua-Rolle aus dem 10. Jahrhundert, dem antiken Vergilius Palatinus und dem Lorscher Evangeliar, gehört fest zu den Beständen der Vatikanischen Bibliothek.

Aber 1986 wird in der Geschichte dieser Bibliothek eine sen-. sationelle Ausnahme gemacht. Für eine viermonatige Ausstellung (8. Juli bis 2. November) kehren um die 500 Bücher nach Heidelberg zurück und werden an der ursprünglichen Aufbewahrungsstätte, den Emporen der Heiliggeistkirche, der Öffentlichkeit gezeigt.

Die Genehmigung zu dieser „Fernleihe“ konnte nur der Papst selber erteilen. Wegbereiter der Aktion waren im Vatikan Österreichs Kurien-. kardinal Alfons Stickler, Bibliothekar und Archivar der Römischen Kirche, und Leonhard E. Boyle, der Präfekt der Vatikanischen Bibliothek, in Heidelberg Gisbert zu Putlitz, Rektor der Universität, und Elmar Mittler, Direktor der Universitätsbibliothek.

Anlaß der Ausstellung ist das 600jährige Bestehen der traditionsreichen Universität Heidelberg. Gerade in den Büchern der Palatina werde die enge Verflechtung der Universität mit der Landesgeschichte und den religiösen Auseinandersetzungen jener Zeit deutlich, meint der Rektor. Die Bücher spiegeln die Interessen der Kurfürsten ebenso wider wie epochemachende wissenschaftliche Neuansätze, zum Beispiel die Anfänge der Arabi-stik in Heidelberg.

Die Heidelberger Ausstellung bietet aber noch mehr als den Blick auf wertvolle alte Schriften, sie informiert auch über das Leben in mittelalterlichen Schreibstuben, über die Herstellung von Papier und

Pergament, über die Kunst, Tinte und Buchmalfarben - das Mittelalter kannte 32 Farbstoffe - zu mischen. Eine frühe Druckerpresse und eine kleine Buchbinderei sollen für den Ausstellungsbesucher das Bild von der Anfertigung der „geistigen Waffe“ Buch abrunden.

Heute, wo das einst so seltene Objekt Buch nicht nur mit einer Flut von Schrifttum jeglicher Art, sondern auch mit ständig weiterentwickelten elektronischen Medien konkurrieren muß, ist der Begriff „geistige Waffe“ natürlich auf jedes Produkt des Medienmarktes anzuwenden. Hier werden Informationen lanciert oder vorenthalten, gesiebt oder verfälscht, Wertvorstellungen geprägt oder verändert. Ist uns das immer so bewußt wie jenen, die sich einst die Palatina sichern wollten?

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