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Die Gewalt in der Schule

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Gerauft haben Schüler immer schon. Heute aber wächst in den Schulen eine gewalttätige Stimmung, der rechtzeitig entgegenzuwirken ist. Drohen in den europäischen Schulen nun bald Zustände, wie sie in den USA herrschen? Dazu Überlegungen eines Lehrers.

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Gerauft haben Schüler immer schon. Heute aber wächst in den Schulen eine gewalttätige Stimmung, der rechtzeitig entgegenzuwirken ist. Drohen in den europäischen Schulen nun bald Zustände, wie sie in den USA herrschen? Dazu Überlegungen eines Lehrers.

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Die Anzeichen, daß die Gewalt im Zusammenleben in der Schule immer mehr zu einem Problem wird, sind nicht mehr zu übersehen. Vieles, was zwischen den Kindern abläuft, bekommen wir Erwachsene aber gar nicht mit. Abrechnungen geschehen blitzschnell, Drohungen, Erpressungsversuche werden versteckt und wie nebenbei fallengelassen.

In einer fünften Klasse hatte der Lehrer lange keine Erklärung dafür gehabt, weshalb mehrere Schüler in ihren Leistungen zunehmend nachließen und über Schlafstörungen klagten. In einem Elterngespräch kam dann zum Vorschein, daß ein Mädchen mit Hilfe einiger „Untergebenen” die ganze Klasse terrorisierte. Für den Lehrer völlig unauffällig dirigierte sie mit Blicken ihre „Hörigen” und schaute, daß sie im Unterricht nicht mitmachten.

Wer sich nicht daran hielt, wurde mit Schlägen in der Pause gefügig gemacht. In einem anderen Fall mußte eine Zweitkläßlerin mit dem Auto zur Schule gebracht werden, weil sie von einer Gruppe von Buben immer abgepaßt und geschlagen wurde. Der Lehrer griff nicht ein, weil er dachte, das werde schon wieder aufhören. Eine andere Schülerin erhielt Telefonanrufe, in denen ihr von zwei älteren Mitschülern mit obszönen Worten ausgemalt wurde, wie sie von ihnen vergewaltigt werde.

Sind das Einzelfälle oder Anzeichen sich ausbreitender Gewalt? Experten aus der BRD befürchten, daß sich auch in Europa Zustände verbreiten werden, wie wir sie schon aus den USA kennen.

Ein wichtiger Grund für die zunehmende Gewalt und Gefühllosigkeit unter Kindern ist sicher in der „laissez-faire”-Erziehung und in der Inkonsequenz zu suchen. Zusammen mit der seelischen Verwahrlosung in begüterten Familien, dem zunehmenden Einfluß der mediengesteuerten Gruppen der Gleichaltrigen und der unreflektierten Verwerfung von bisher gültigen Werten, führt das zu ähnlichen Erscheinungen, wie sie früher ein sehr strenger erzieherischer Umgang hervorgerufen hatte.

Diese Phänomene stehen in engem Zusammenhang mit der Verbreitung gewalttätiger Filme in den Medien, welche zu aggressivem Verhalten anstacheln und zur Abstumpfung führen. Gewalttätige Vorbilder treffen bei den Kindern, denen heute ethische und emotionale Voraussetzungen oft weitgehend fehlen, auf eine geeignete charakterliche Disposition; oft völlig sich selbst überlassen, nehmen sie auf, was ihnen vorgesetzt wird. Alle Erzieher sollten sich Wege erarbeiten, wie die sich ausbreitende Brutalität und emotionale Verwahrlosung gestoppt werden könnte.

Neben den Eltern kann vor allem der Lehrer verhindern helfen, daß sich gewalttätiger Umgang weiter ausbreitet. Leider höre ich von Lehrerkollegen vielfach, daß sich zunehmend Pessimismus breitmacht. Ein Lehrer beispielsweise äußerte Angst, sich gegen einen Schüler zu stellen, der die anderen plagte; in einem anderen Falle wollte ein Kollege nicht als „autoritär” gelten und ließ deshalb aggressives Verhalten zu, weil er sich dachte, er sei sonst hoffnungslos veraltet. Das scheint der Auffassung zu entspringen, revoltieren sei immer gut. Dabei sind heute die Schüler meist nicht aus Unzufriedenheit über die Gesellschaft oder wegen übermäßiger Strenge der Eltern aggressiv, sondern einfach weil sie sich über andere „aufregen” und was sie ohne Rücksicht auf andere „ausleben” wollen.

In der heutigen Erziehungspraxis können die angeführten Gründe zur Folge haben, daß aus dieser Stimmung heraus Kränkungen, verbale und physische Aggressionen von den Lehrern nicht aufgegriffen werden. Im Sinne von „das war doch in unserer Zeit auch schon so”, übertragen viele Erzieher ihre eigene Situation aus Kindheit und Schulzeit unbesehen auf die heutige Zeit, ohne zu sehen, daß die Kinder heute einen anderen gefühlsmäßigen Hintergrund haben, der vor allem durch ein Fehlen bewährter zwischenmenschlicher Werte geprägt ist.

Um die Ausbreitung der gewalttätigen Stimmung zu verhindern, muß die Gewalt eingedämmt werden. Schule darf keine Gewalt dulden. Das ist keine Stellungnahme für die autoritäre Erziehung; eine Anleitung geben darf nicht mit autoritärer Erziehung verwechselt werden, wie es von gewissen schul-und erziehungsfeindlichen Kreisen in manipulatorischer Absicht gemacht wird, sondern heißt Orientierung geben, heißt auch Vermittlung ethischer Werte. Wer das als Lehrer versäumt, läßt antisoziale Tendenzen Oberhand gewinnen. Wenn der Lehrer gegen die Gewalt keine Stellung nimmt, denken alle, er billige diesen Umgang und wegen der negativen Vorbildwirkung beginnt der aggressive Umgang immer weiter um sich zu greifen. Die Schule kann ihrem pädagogischen Auftrag nur gerecht werden, wenn sie den Kindern in einem angstfreien Klima aufbauende, positive menschliche Werte vermittelt. Alle gewalttätigen und gemeinschaftswidrigen Vorfälle sollten für Lehrer und Erzieher Anlaß sein, solche Umgangsweisen zu bewerten und gemeinsam mit der Klasse andere Umgangsweisen zu erarbeiten. Der Lehrer muß das Mitgefühl für andere in seinen Schülern und friedfertige Konfliktlösungen schulen.

Erst wenn allen klar ist, daß in einer Gemeinschaft keinerlei Gewaltakte geduldet werden, kann und muß zum nächsten, dringend notwendigen Schritt übergegangen werden. Es genügt nicht, die Gewalt einzudämmen, es braucht auch den systematischen Aufbau jener bewährten mitmenschlichen Werte, die schon erschreckend weit abgebaut worden sind: Toleranz, Anteilnahme und Mitmenschlichkeit.

Wenn die Erzieher in Schule und Familie beginnen, den in diesem Artikel beschriebenen Phänomenen etwas entgegenzusetzen, wäre das ein Zeichen dafür, daß sie die unzähligen Signale und Resultate wissenschaftlicher Untersuchungen aufgenommen und gedeutet haben und vorausschauend dafür sorgen, daß unsere Jugend, unsere Zukunft, nicht einer gravierenden Fehlentwicklung zum Opfer fällt.

Der Autor ist Lehrer in Zürich.

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