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Die Gleichen und die noch Gleicheren

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„Volk und Partei sind eins“, lautet die Losung, die auf rotem Grund in überdimsensionalen weißen Buchstaben von den Häuserwänden herunterleuchtet. Nach einem in Moskau kursierenden Bonmot soll ein Unbekannter die sich im Russischen reimenden Worte darunter gekritzelt haben: „Sie gehen nur in verschiedene Geschäfte!“

Der Witz hat Tiefgang, ist sich doch jeder in der sowjetischen Gesellschaft der gewaltigen sozialen Unterschiede zwischen Privilegierten und Habenichtsen, zwischen den höheren Parteifunktionären und dem kleinen Mann bewußt. Welten stehen zwischen dem einfachen Bürger, der sich täglich durch das Labyrinth von Bürokratie und Jagd nach Konsumgütern durchzukämpfen hat und allen jenen, die im Sowjetstaat Entscheidungen treffen.

Verschämt spricht man nur von „ihnen“, von „denen da oben“; „sie haben angeordnet!“ - oni (sie), das sind die Mächtigen, die Einflußreichen, die Parteibonzen, bis hinauf zur Führerschicht, die an den großen Paraden vom Lenin-Mausleum herab die Huldigungen des Volkes entgegennehmen, ganz wie zu Zeiten der Romanows. Damals freilich trugen die Defilierenden Bilder der Zarenfamilie und Ikonen; heute führen sie Konterfeis der Mitglieder des Politbüros und Werbesprüche der Pu-blic-Relation-Abteilung im ZK mit sich: „Wir billigen die Außen- und Innenpolitik unserer Partei“ oder Ausdruck des Vertrauens an die Entscheidungen von oben: „Was die Partei angeordnet hat, erfüllen wir“. Noch deutlicher: „Die Partei ist Ver-

„Wer sich in der Sowjetunion umsieht, der erblickt das Bild einer massiven, soliden, altmodischen Macht.“

stand, Ehre und Gewissen unserer Epoche.“

Je mehr sich die Partokraten anstrengen, die politische Entscheidung als einen organischen, demokratischen Prozeß von unten nach oben darzustellen, je mehr sie sich um den äußeren Anschein bemühen, die Volksmassen hinter sich zu haben, umso schmählicher werden die Gleichheitsideale eines Marx und eines frühen Lenin mit Füßen getreten.

Die Führungsspitze im Kreml ist überhaupt völlig von der Bevölkerung abgeschnitten, was ihnen gleichsam den Eindruck des Mythischen, Übermenschlichen vermittelt. Der Durchschnittsbürger bekommt sie nur an den öffentlichen Auftritten im Fernsehen zu Gesicht. Aber auch der ausländische Berichterstatter beim Kreml kann die Führer der Nation nur par distance beobachten. In den fast sieben Jahren meiner Moskauer Tätigkeit bin ich dem Generalsekretär nur dreimal unmittelbar gegenübergestanden.

Ältere Korrespondenten erinnern sich noch mit Wehmut an die Zeiten des impulsiven Volkstribuns Chruschtschow, der die Auslandsjournalisten plötzlich in den Kreml rief, sich mit ihnen unterhielt oder gar mit ihnen stritt. Chruschtschow tauchte auch spontan in Betrieben auf und unterhielt sich mit überraschten Arbeitern. Bis zum Ende der sechziger Jahre besuchte Ministerpräsident Kossygin hin und wieder Geschäfte in der Moskauer Gorki-Straße. Doch dieses Aufleuchten von echter Popularität, von Interesse für die Probleme des Volkes ist heute völlig aus dem Stil des Kreml ver-' bannt.

Wer sich in der Sowjetunion umsieht, der erblickt das Bild einer massiven, soliden, altmodischen Macht. Am deutlichsten wird dies zu den Paraden am 1. Mai und am 7. November.

Seit dem Jahre 1971 ist die martialische Schau, das Defilee von Panzern, Raketen und Kanonen auf den Gedenktag an die Revolution beschränkt. Die Sommerparade, und der zweite Teil der Revolutionsfeiern sollen nach den Organisatoren Volksfeste seih, ein Ausbruch elementarer Festesfreude, überschwenglicher Beweis der Verbundenheit von Sowjetvolk und Sowjetfuhrung. Aber das Ergebnis, wiewohl bestens einstudiert und exakt ablaufend, wirkt so steril, routiniert und seelenlos, wie die immer wiederkehrenden Hochrufe aus den Lautsprechern.

An kleinen Regiefehlern merkt auch der Fernsehzuschauer, daß die demonstrierte Festesfreude nicht allzu tief geht. Ausgewählte Bürger aus allen Schichten und Teilen des Landes dürfen auf dem Roten Platz vor der TV-Kamera ihr Sprüchlein zum Lobe der Partei im üblichen Pa-

thos heruntersagen. Nicht selten kam es dabei zu Pannen, die in Direktübertragungen nicht korrigiert werden konnten. Arbeiter und Bauern^ kamen mitten in ihrem Hymnus, den sie mühevoll auswendig gelernt hatten, ins Stottern, wußten nicht mehr weiter und mußten ihren Spickzettel aus der Tasche hervorholen. So sieht jedenfalls der Ausdruck spontaner Begeisterung nicht aus.

Dennoch verfehlt diese Propagandaschau keineswegs ihre Wirkung auf die Bevölkerung. Sie zeigt unverhohlen ihren Stolz über das, was am Auge vorbeizieht. Gleichwohl sind die Tage der angeordneten Feste für die meisten nichts anderes als willkommene Abwechslung nach harten Tagen der Arbeit, sie freuen sich darüber, daß vor den Feiertagen die Regale der Geschäfte etwas reichlicher bestückt sind als sonst.

Schon der Blick auf die großen

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