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Die „Gliedertaxen

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Skandalisierung eines Personenthemas - dann wurde der Fall Othmar Karas abgehakt. Ein Politiker wurde an-, das Grundprobjem aber gar nicht erst aufgegriffen. Ein Stein des Anstoßes - statt Anstoß zum Überdenken des sozialrechtlichen Systems.

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Skandalisierung eines Personenthemas - dann wurde der Fall Othmar Karas abgehakt. Ein Politiker wurde an-, das Grundprobjem aber gar nicht erst aufgegriffen. Ein Stein des Anstoßes - statt Anstoß zum Überdenken des sozialrechtlichen Systems.

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Das Anti-Privilegien-Theater um Othmar Karas, das sehr viel Unkluges produziert hat (worauf noch einzugehen sein wird), könnte doch auch einen großen Nutzen haben: Wenn auch recht inkompetente Kollegen des Betroffenen und Journalisten nicht einmal mit den Begriffen umgehen konnten - so sprach man wiederholt von seiner „Invaliditätspension“ - und sich auch ganz offensichtlich aus nicht immer sehr edlen Beweggründen empörten, förderten sie unfreiwillig ein ungelöstes Problem der Sozialpolitik zu Tage. Es ist zwar seit Jahren den Fachleuten bewußt, blieb aber angesichts der heutigen allgemeinen Stagnation der Sozialpolitik bisher ungelöst.

Es gibt in unserer Sozialordnung sogenannte „entschädigungspflichtige“ Verletzungen. Sie stehen mit der versicherten Berufstätigkeit im Zusammenhang, können aber auch Folge von Schulunterricht, Wehrdienst, Rotkreuzhilfe und so weiter sein. Eindeutig geklärt ist auch, daß man auf dem Weg zur betreffenden Tätigkeit ebenfalls, unter gesetzlichem Schutz steht. Letzteres war übrigens auch im Fall Karas klar, wurde aber im Zuge der Gehässigkeiten auch als dubios dargestellt.

Treten Folgen einer solchen Verletzung ein, welche unter eine gesetzliche Entschädigungspflicht fällt, ist seit jeher auch die eingetretene Minderung der Erwerbsfähigkeit abzugelten.

Hier liegt nun der Hase im Pfeffer. Der Gesetzgeber wollte bei Lösung dieser gar nicht leichten Aufgabe möglichst gerecht, also auch gleichmäßig vorgehen. Um jede Willkür zu vermeiden und um unguten Streitereien aus dem Weg zu gehen, hat man sich darauf festgelegt, bestimmten Behinderungen bestimmte Prozente der reduzierten Arbeitsfähigkeit zuzuordnen. Seit Jahrzehnten gibt es sogar sogenannte „Gliedertaxen“, also Tabellen, wo man anhand aufgezeichneter Männchen nachsehen kann, welche „MdE.“ (bedeutet Minderung der Erwerbsfähigkeit) eintritt, wenn etwa der rechte Fuß oder der Daumen der linken Hand amputiert werden mußte. Die ermittelten Prozente werden dann mit der Höhe des versicherten Einkommens in Zusammenhang gebracht und daraus ergibt sich die Höhe der Unfall-( Versehrten) rente.

Es liegt auf der Hand, daß dieses althergebrachte System seine Schwächen hat. Zunächst ist es ja nur eine Fiktion, daß sich eine verschlechterte Verdienstmöglichkeit als Verletzungsfolge wirklich in Prozenten des bisherigen Einkommensniveaus niederschlägt. Im Regelfall wird man entweder seinen bisherigen Beruf aufgeben müssen - dann mag die Rente möglicherweise zu klein sein -; oder man kann ihn (wenn auch mit Schwierigkeiten und Selbstüberwindung) weiter ausüben. In letzterem, sehr häufigen Fall ist die zuerkannte Leistung zu hoch, wenn man also will: „ungerecht“.

Man hat dies aber bisher nicht nur hingenommen, sondern sogar als eine der vielen Wohltaten unseres guten Sozialsystems gepriesen. Beim Politiker Karas, dessen hoher Abgeordnetenbezug als Basis der Versicherung im Zusammenhang mit unbestritten schweren Verletzungsfolgen eine Höchstrente produzierte, sah man die Dinge freilich anders.

Die geschilderte Schematik der gesetzlichen Abgeltung löst auch ein zweites großes Problem aus. Man muß bedenken, daß eine Unfallrente auch als Abgeltung für die Behinderung, also die Lebenserschwernisse angesehen wird. Hier ruft die dargestellte Verknüpfung mit der Höhe des versicherten Einkommens arge Ungerechtigkeiten hervor, die ebenfalls anhand unseres Politikerfalles sichtbar wurden. Niemand wird verstehen, daß ein schwer Behinderter, dessen Einkommen bescheiden war (und ist), weniger bezieht, als ein Großverdiener, der an gleichen Folgen zu tragen hat.

Wenn nun in der entstandenen Diskussion ein Parteiobmann meinte, solche Privilegien gehörten abgeschafft und ein anderer, bei Politikern sollten für Versehrtenrenten Ruhensbestimmungen gelten (wogegen man übrigens sonst striktest auftritt!), zeigt man nur, daß man sich nicht der Mühe unterzog, die Dinge sachlich und emotionslos zu prüfen.

Jede Sonderregelung für Politiker wäre hier wie in anderen Belangen Unfug. Man sollte vielmehr die Dinge als Anstoß betrachten, das gesamte Entschädigungssystem unserer Sozialordnung zu überdenken; eine Zusammenschau mit der Reform der Pensionsversicherung drängt sich übrigens geradezu auf.

Ziel sollte sein, Lebenserschwernisse durch Behinderungen für alle Staatsbürger gleich abzugelten, also ohne irgendeine Bezugnahme auf die Höhe der gezahlten Beiträge für die Versicherung. Eine Abgeltung verlorener Verdienstchancen sollte gesondert erfolgen und auf die tatsächliche Erwerbssituation aufbauen.

Ein solches neues System wäre zwar in der letztgenannten Zielsetzung schwierig zu handhaben, aber viel gerechter: Wer trotz Unfall weiterarbeiten kann, bekäme dann eben nur eine - für alle gleich hohe - Abgeltung seiner Lebenserschwernisse. Den wirklich Bedürftigen könnte man auf diese Weise viel wirksamer helfen.

Othmar Karas hat man in der öffentlichen Diskussion seines Falles unrecht getan, weil unser geltendes System auf ihn korrekt angewendet wurde. Er möge sich aber damit trösten, daß er den Anlaß für eine allgemeine Revision und gerechtere Ausgestaltung unserer Sozialordnung geliefert haben könnte. Man müßte nur jetzt vernünftige neue Schritte setzen.

Der Autor ist Volksanwalt.

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