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Die Glocken

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Sprachlich gesehen hängt läuten mit laut zusammen. Läuten aber hat einmal als faktives Verbum zu laut jede Art von lautmachen und lautwerdenlassen bedeutet. So heißt es bekanntlich in der althochdeutschen Weltuntergangsdichtung „Muspilli": „So daz himilisca horn kihlutit uuir-dit..." (Wenn die Trompete des Jüngsten Gerichtes „geläutet" wird ...)

Wie schön, —nicht einfach laut— die Glocken klingen, das wurde uns vor allem bewußt, wenn wir sie zum Gloria in der Gründonnerstagsmesse noch einmal kräftig rüttelten, die Glocken am Turm und das Glöcklein neben dem Eingang zur Sakristei, um sie dann nach Rom fliegen zu lassen. Und erst wenn später zum Sanktüs die Klapper angeschlagen wurde und wenn am Abend- statt des Gebet -läutens die Ratschenbuben durch den Ort zogen, wußten wir aus diesem Kontrasterlebnis heraus, was wir an den Glocken hatten. Uberhaupt war auch Glocke nicht gleich Glocke. So läuteten wir als Ministranten bei den stillen Messen an Wochentagen das einfache Glöcklein mit dem kurzen hölzernen Stiel, während wir bei Ämtern an Sonn- und Feiertagen die Dreifachglocke mit dem ovalen metallenen Henkel benützten, die natürlich wesentlich voller klang.

Ich stamme aus einem Elternhaus, in dem das Glockengeläut sehr beliebt war. Die Lieblingssendung meines Vaters war nach dem Zweiten Weltkrieg, als wir das erste Radio bekamen, das Mittagsgeläut vom Bayrischen Rundfunk. Sonst unmusikalisch, hat er gerade zu den Glocken ein gewissermaßen intimes Verhältnis entwickelt. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er immer darauf gewartet hat, daß am Schluß die große Glocke einfällt, erst dann gab er seinem Urteil und seiner Bewunderung Ausdruck. Erwies sich aber das Warten auf eine Pummerin als vergeblich, dann war ein Standardsatz seiner Enttäuschung: Ein armes Geläut! Auch im Wort Zinn drückte sich Verachtung aus.

Ich selbst tat nichts lieber als in der Läutkammer im Turm am Strang zu ziehen. Wie habe ich aber einmal gestaunt, als mir der Söllinger Sepp zeigte, wie er ganz allein die vier Glocken unseres Pichler Geläutes in Schwung halten konnte — ein akrobatischer Akt. Auch beim Glockenläuten mußte man übrigens einen gewissen „Vorteil", das heißt Kniff beherrschen, mit ungeschlachter physischer Kraft allein war es nicht getan. Vor allem mußte man an einer bestimmten Stelle, kurz bevor der Klöppel die Verzögerung im Flug aufgeholt und den Glockenmantel erreicht hatte, da-gegenrucken. Die eigentliche Kunst besteht darin, daß der Klöppel regelmäßig anschlägt und man nicht zu viele Ausfälle produziert. Kritische Punkte schließlich waren der Beginn, wo es galt, die Glocke so zu bewegen, daß der Klöppel nicht sofort einsetzte, um dann gleich voll anzuschlagen, und auch das Ende, wo es nicht endlos nachbimmeln durfte.

Nachdem ich als Bub zwei Versuche unternommen habe, die Gitarre und das Klavierspielen zu erlernen, wo ich aber jeweils schon am Anfang aus Ungeduld und Ubungsunlust aussichtslos gescheitert bin, sind die Glocken auch das einzige Instrument geblieben, das ich beherrsche, wenn auch nur noch theoretisch. So weiß ich auch, daß es sich beim Glockengeläut im Effekt mehr um ein melodisches als harmonisches Geschehen handelt. Wobei sich die Melodie aleatorisch und zufällig ergibt, immer wieder von durch den Zufall zustandegekommenen Akkorden auf Grund simultanen Anschlagens unterbrochen. Wie eindrucksvoll und einprägsam, sozusagen spielerisch ließen sich etwa Probleme der Mengenlehre am Beispiel des Geläutes eines Glok-kenspieles erläutern ...

Des einen Genuß, des anderen Verdruß. Es ist für einen Campanaphilen schwer zu begreifen, daß der Anticampanismus schon so weit gediehen ist, daß es zu einem höchstrichterlichen Urteil kommen mußte, das besagt, daß „das Läuten der Glocken keine unzumutbare Ruhestörung" sei, und daß „vor ordentlichen Gerichten nicht auf Unterlassung des Läutens geklagt werden kann". Daß den Kirchen das Privileg bestätigt werden mußte, zu läuten wann sie wollen! Oder wenn nicht nach Willkür und wann es ihnen einfällt, aber zu christlicher Zeit.

Eine christliche Zeit war früher das Morgengrauen. Würde die Kirche heutzutage so früh beginnen, wäre es wie ein Heimläuten der vielen Nachtschwärmer, die aus den Diskotheken wanken. Sie haben natürlich noch eine ganz andere Musik als die Glocken vom Campanile im Ohr! Sie sind vom Höllenlärm noch ganz betäubt und halbblind von der Lichtorgel. Würden sie die Botschaft verstehen?: Laudo deum verum, plebem voco, congrego clerum, defunctos ploro, pestem fugo, festa decoro, oder wie das Motto der Ballade „Die Glocke" von Friedrich von Schiller lautet: Vivos voco, mor-tuos plango, fulgura frango.

Es ist freilich zuzugeben, daß ein Unterschied besteht, ob man irgendwo auf dem Land aus einer gewissen Entfernung, etwa über den Königssee herüber, eine friedliche Abendglocke vernimmt oder ob man in einer kirchenreichen Stadt wie Münster, sozusagen eingeklemmt zwischen Türmen, aus nächster Nähe und von allen Seiten von Glocken bestürmt wird ... Und flöhe einer aus einer solchen plebs urbana, so könnte er mit einer gewissen Berechtigung sagen: pestem fugo. Schließlich kommt das lateinische Wort für Glocke (campana) von campus „das Feld, der Platz". Es bedarf also für den wahren Genuß einer gewissen Distanz wie bei allem Guten, soll nicht des Guten zu viel sein.

Vorabdruck eines Beitrages für das „Lexikon der Lebensfreuden" im Verlag Herder, Freiburg.

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