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Digital In Arbeit

Die goldene Taschenuhr

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Der Direktor des Sanatoriums sagte zu mir: „Sie fliegen doch nach D.? Ich habe eine Bitte an Sie. Ein Urlauber, ein akademischer Maler, hat bei uns im Duschraum seine goldene Uhr vergessen. Sie wurde erst heute gefunden. Wenn Sie nach D. kommen, rufen Sie doch bitte Nummer 93 51 an. Es wird sich der Besitzer der Uhr — er heißt Popotejew — melden; sagen Sie ihm dann bitte, er möge sich die Uhr bei Ihnen abholen. Im voraus herzlichen Dank.“

Ich nahm die Uhr. „Warum?“ werden Sie fragen. Wissen Sie, im Sanatorium hatte ich die Werke von Anton Tschechow gelesen. Durch diese Lektüre beeindruckt, beschloß ich, von nun an gefällig und hilfsbereit zu sein — genauso, wie Tschechow es war.

Weder zu Hause noch in meinem Büro brauche ich telephonische Anrufe selbst zu erledigen. Die notwendigen Verbindungen verschafft mir zu Hause meine Frau und im Büro meine Sekretärin. Und hier, stellen Sie sich vor, soll ich selbst irgendeinen mir unbekannten Popotejew anrufen, mit ihm eine Zusammenkunft vereinbaren und ihm die Uhr aushändigen! Da sieht man, wohin das Lesen der Klassiker führt!

Nach meiner Ankunft in D. wähle ich sofort die mir angegebene Nummer. Niemand meldet sich. Ich rufe am Abend nochmals an — kein Lebenszeichen. Am nächsten Morgen versuche ich es wieder — kein Mensch antwortet. Anstatt mich um meine eigenen Sachen — sehr wichtigen Sachen sogar — zu kümmern, vertrödle ich meine Zeit mit der Uhr irgendeines Popotejew! Wie komme ich eigentlich dazu?

Ganz in der Nähe des Hotels, in dem ich wohnte, war die Post. Ich beschloß, die vermaledeite Uhr an den Sanatoriumsdirektor zurückzuschicken. Auf der Post natürlich eine lange Schlange. Die Leute im Süden schicken ihren Verwandten im Norden Pakete mit Obst. Und noch ein angenehmes Detail! Die Uhr muß verpackt, ihr Wert angegeben und die Adresse leserlich geschrieben werden. Zu Hause diktiere ich, ein leitender Wirtschaftsführer, sogar meine Privatbriefe der Sekretärin — und jetzt soll ich mich um die Verpackung einer Uhr kümmern, die irgendein schusseliger Mensch liegen gelassen hat — und mich noch dazu anstellen! Nein!

Ich gehe ins Meldeamt. Dort werden mir nur drei Fragen gestellt: Wie alt ist Genosse Popotejew, wo ist er geboren und von wo ist er nach D. zurückgezogen? Das Fräulein im Amt ist zuerst unerbittlich. Ich beschwöre sie, mir zu helfen. Ich flehe wie jemand, der um die Vergrößerung seiner Wohnfläche bittet, und erhalte schließlich die Auskunft: Popotejew wohnt in der Stroitelnaja Straße Nr. 2, Wohnung 28.

Es stellt sich heraus, daß sich diese Straße am Ende der Welt befindet, unmittelbar neben dem Nordpol. Wutschnaubend verlasse ich das Meldeamt und halte nach einem Taxi Ausschau. Eins nach dem anderen fährt an mir vorbei und alle sind unbesetzt. Ich winke verzweifelt, den Hut im Nacken, total verschwitzt, und fühle, daß ich zusehends abnehme — aber kein Taxi bleibt stehen: Die Chauffeure streben zu den Vorortezügen, wo ihnen reichlich Trinkgelder von Fahrgästen winken, die Obst auf die Märkte bringen wollen.

“Endlich habe ich Glück. Ich springe in das Taxi — der Chauffeur hatte keine Zeit mehr, zu verduften, ten.

So komme ich also auf dem Nordpol an, finde das Haus und die Wohnung 28 im vierten Stock (Aufzug gibt es natürlich keinen). Ich läute an. Es öffnet mir eine hübsche, junge, sympathische Frau. „Wohnt hier der Genosse Popotejew?“ — „Was wünschen Sie?“ — „Sind Sie Frau Popotejew? Ihr Mann hat nämlich im Sanatorium seine Uhr vergessen. Ich habe sie mitgebracht.

Bitte, hier ist sie. Eine Bestätigung brauche ich nicht“, sagte ich galant. — „Danke, Sie sind sehr liebenswürdig.“

Ich verabschiede mich und renne hinunter zum Taxi.

Ins Hotel kehre ich erst gegen ein Uhr nachts zurück. Plötzlich läutet das Telephon. Eine Männerstimme fragt, ob ich am Apparat sei und nennt mich beim Namen. „Ja, das bin ich.“ — „Hier spricht Popotejew. Haben Sie mir meine Uhr mitgebracht?“ — „Ja, und ich habe sie Ihrer Frau ausgehändigt.“ — „Wer hat Sie darum gebeten? Man hat Sie beauftragt, mich telephonisch zu verständigen.“ — „Erstens hat mich niemand beauftragt, sondern man hat mich gebeten. Zweitens habe ich die mir angegebene Nummer angerufen, einigemale sogar.“ — „Das ist die Nummer des Theaters, in dem ich zur Zeit arbeite, und gestern war Feiertag.“ — „Ich habe die Uhr aber doch Ihrer Frau übergeben. — „Wir leben schon seit einem Jahr getrennt. Nur ist meine Adresse noch die alte. Seien Sie also so gut, holen Sie die Uhr wieder ab und händigen Sie sie mir aus.“ — „Ich denke nicht daran!“ — „Dann werde ich Sie anzeigen. Ich habe das Sanatorium angerufen und man sagte mir, Sie hätten sich bereit erklärt, mir die Uhr zu übergeben. Es hat Sie niemand gezwungen, die Sache zu übernehmen.“ — „Nun, und wie wäre es denn, wenn Sie selbst zu Ihrer Frau hinfahren und sich die Uhr holen würden?“ — „Sie wird sie mir nicht geben. Also, entweder Sie bringen mir die Uhr, oder ich gehe zu Gericht.“ Und er hängte ab.

Stellen Sie sich nur meine Lage vor: Dieser freche Kerl wird dem Gericht natürlich meine ständige Adresse mitteilen und ich werde von den Richtern beschuldigt werden, eine fremde Uhr gestohlen zu haben, ich, ein Mann in gehobener Stellung! „Ein Meer von Komik“, würde Tschechow sagen, der an meinem ganzen Jammer schuld ist.

Ich fahre also los. Wieder ans Ende der Welt. Frau Popotejew treffe ich nicht zu Hause an. Ein etwa zehnjähriges Mädchen erklärt mir, daß die Mutter im Telegraphenamt arbeite. Ich rase zum Telegraphenamt und spreche mit Frau Popotejew. Sie sagt mir, ihr früherer Mann sei ein Schuft. Er sei Künstler, Bühnenbildner, verdiene ziemlich viel, zahle aber nur schleppend die Alimente. Sie selbst habe für ihre alte Mutter und das Kind zu sorgen. Das Kind brauche einen Wintermantel und er wolle nicht einmal ein paar Rubel zuschießen. Die Uhr werde sie unter keinen Umständen herausgeben, sie werde sie verkaufen und für den Erlös dem Kind einen Wintermantel anschaffen. Sie fühle sich um so mehr im Recht, als Popotejew die Uhr seinerzeit von ihrem Vater bekommen habe... Hier im Amt gab sie mir auch eine Quittung über den Erhalt der Uhr.

Ich weiß nicht, was Tschechow, der Klassiker, in einer derartigen Situation getan hätte. Ich jedenfalls tat folgendes: Als um zwei Uhr Popotejew mich anrief, sagte ich: „Ich habe die Uhr, kommen Sie zu mir.“ Er erschien — ein schlanker, gutgekleideter Mann. „Unterschreiben Sie diesen Zettel“, verlangte ich barsch. (Meine langjährige Erfahrung im Umgang mit Menschen hatte mich gelehrt, was für einen Ton man in einer solchen Situation anschlagen muß.) Ich legte Feder und Papier auf den Tisch. Er schrieb folgsam nach meinem Diktat — wahrscheinlich, weil er in meiner Faust die Uhr (es war meine eigene, vergoldete) sah. Mit einer herrischen Geste riß ich ihm das Papier aus der Hand und befahl: „Und jetzt hinaus mit Ihnen! Die Uhr bekommen Sie nicht! Sie befindet sich bei Ihrer früheren Frau, von der ich auch eine Quittung habe. Ihre Frau wird die Uhr verkaufen, weil Ihr Töchterchen einen Mantel braucht. Hinaus!“

Er wurde nicht einmal verlegen, schaute mich nur haßerfüllt an und zischte: „Ich zeige Sie an!“ — „Tun Sie das. Ich bleibe inzwischen hier und schreibe einen Brief an die Zeitung, damit die Öffentlichkeit erfährt, wie Sie sich ihrem Kind gegenüber benehmen.“

Ich ging zur Tür und riß sie auf. Er stürzte hinaus. Ich erwartete, daß er Milizsoldaten riefe. Es kamen aber keine.

Aus dem Russischen übersetzt von O. Buchholz

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