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Die Grenzdurehbrecher

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Man sitzt im Kreis beisammen in einer Neubauwohnung im westdeutschen Ruhrpott. Man spricht über Ankunft, über Bleiben und Rückfahrt. Deutsche unter Deutschen.

Aber sind sie das? Zum Beispiel die Tante aus Karl-Marx-Stadt, die „mal fahren durfte“, zu Besuchszwecken, weil ein Neffe gerade eingeschult wurde. Ein hohes Fest in der DDR, da dabei die Sechsjährigen zu kommunistischen Pionieren ernannt werden, doch in der Bundesrepublik ein Tag ohne gesellschaftliche Bedeutung.

Aberwas soll's, gefahren wird von Ost nach West eh nach Gutdünken der Oberen. Der eine bekommt das Glück, regelmäßig zu nichtigen Anlässen Verwandte und Freunde im Westen besuchen zu können, andere sehen bis zum Rentenalter nur die triste Seite der Berliner Mauer.

Deshalb hatte vor drei Jahren Familie S. „eingereicht“. Seit zwei Wochen sind sie „drüben“, bei Verwandten in Bochum. Nun treffen sie sich, bei Skat und Bier, plaudern und reden über die Bedrängnis, die sie in ihrer alten Heimat verzweifeln ließ.

„Wenn du nicht auf der Seite der Partei stehst“, erzählt Busfahrer S., „dann wirst du nur schikaniert.“ Seine Familie habe nie einen Urlaub an der Ostsee nehmen können, nur den Genossen genehmigte man Badeferien. „Dabei arbeiteten gerade wir härter als die, die immer nur auf Parteiversammlungen herumsaßen.“ Einer der Gründe, weshalb er seine Übersiedlung zu den anderen Deutschen beantragte. Ein Ersuchen, unter dem selbst die entfernte Verwandtschaft zu leiden hatte.

Geschichten werden erzählt, die schockieren: Eine Nichte wurde einmal in der Schule an die Tafel zitiert, sie solle einmal erzählen, was am 20. April passiert sei. Verdutzt findet das Kind keine Antwort. Darauf der Lehren „Du kannst dich wieder setzen, aber denk daran, das ist der Tag der Staatsfeinde.“ Es war jener Tag gewesen, als die Pfarrersfamilie des Ortes die Gemeinde verlassen hatte.

Im Stich ließ - wie die evangelische Landeskirche Anhalt befand und dem bundesdeutschen Konsistorium die Empfehlung weiterreichte, den Pastor und die Vikarin nicht in den kirchlichen Dienst zu übernehmen. Als Arbeitslose sitzen sie nun im Westen. Unverstanden.

„Die Flucht nach Ägypten“ im Matthäus-Evangelium oder „Moses Flucht nach Midian“ - in kritischen DDR-Kirchen Basistexte - zählen nicht zur Erklärung, weshalb Hunderttausende Ostdeutsche außer in der Flucht keinen Ausweg mehr sehen, der rigorosen Abschottung und Verschärfung des politischen Kurses des Berliner Regimes zu entkommen. Die Amtskirchen sagen: .Ausharrenl“ und verlangen von den Kirchenträgem, mit gutem Beispiel voranzugehen.

Es wird viel geschrieben in diesen Tagen. In beiden deutschen Staaten wurden die Fluchtströme, die Mauerspringer und Grenzdurchbrecher aus dem Osten zum Medienfüller.

Jenseits wie diesseits des Brandenburger Tors herrscht Verwirrung. Aus Bonn hört man, die „Wiedervereinigung kann nicht in der Bundesrepublik stattfinden“, die (Ost-)„Berliner Zeitung“ kommentiert zum 13. August, dem Tag des Mauerbaus: Wenn man sich mal vorstelle, „was drüben aus dem braunen Sumpf hervorkriecht“, und eine christdemokratisch-repub lika-nische Koalition wahrscheinlich werden kann, sei es vielleicht doch gut, „daß die Mauer noch ein bißchen schützt, damit eines Tages ein Teil von Deutschland Grünen und Sozialdemokraten Asyl geben kann.“

Wortakrobatik auf beiden Seiten, die menschliches Schicksal überspielt.

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