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Die Greuel machen stumpf

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Wieweit vertreten die am Genfer Verhandlungstisch sitzenden Politiker Ex-Jugoslawiens tatsächlich die im Land kämpfenden Armeen, Freischärler (FURCHE 45/ 1992), Banden, Banditen, Söldner, Fanatiker, Dorfverteidiger, Extremisten, Mafiosi, Marodeure, Milizen? Ist bei den unkontrollierten und unkontrollierbaren Haufen - die manche Beobachter an die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges erinnern - ein Konsens noch möglich? Hier ein Augenzeugenbericht eines freien Journalisten, der seit Sommer 1991 mehrfach auf allen Seiten der Fronten am Balkan recherchierte.

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Wieweit vertreten die am Genfer Verhandlungstisch sitzenden Politiker Ex-Jugoslawiens tatsächlich die im Land kämpfenden Armeen, Freischärler (FURCHE 45/ 1992), Banden, Banditen, Söldner, Fanatiker, Dorfverteidiger, Extremisten, Mafiosi, Marodeure, Milizen? Ist bei den unkontrollierten und unkontrollierbaren Haufen - die manche Beobachter an die Zeiten des Dreißigjährigen Krieges erinnern - ein Konsens noch möglich? Hier ein Augenzeugenbericht eines freien Journalisten, der seit Sommer 1991 mehrfach auf allen Seiten der Fronten am Balkan recherchierte.

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Die Pressestelle der „Serbischen Armee Bosniens-in Bijeljina in Ostbosnien befindet sich im ehemaligen kommunistischen Jugendzentrum. Die Disco im Erdgeschoß erinnert an einen „Cats—Verschnitt; die Temperaturen liegen allerdings höchstens um Null Grad, im Freien fiel das Thermometer in den letzten Tagen auf Minus 16 Grad. Die Disco ist voll Uniformierter: Hier gibt es gefleckte, getigerte Kampfanzüge, wie von Modeschöpfern entworfen („Boutique-Soldaten-hat die Zivilbevölkerung die Träger getauft), daneben die antiquiert und fast friedlich wirkenden Jugo-Armee-Waffenröcke mit langen Hosen und eine Unzahl von in Räuberzivil Gekleideten, deren Phantasien keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen.

Dragan lebt gefährlich

Ähnliche Bilder habe ich Monate vorher bei den kroatischen Milizen in Dubrovnik, Grude und Mostar gesehen: Die „Tiger—Brigade, die faschistische „HOS- des Dobroslav Para-ga, manche Einheiten der neuaufge-stellten „HVO- der Regierung Mate Bobans im neugeschaffenen Kroatenstaat „Herceg-Bosnia- in der Herzegowina. Sie alle ähneln in Auftreten und Sprücheklopfen den „Weißen Adlern- eines Arkan auf serbischer Seite und auch die „Grünen Barette-und andere Moslem-Milizen weisen frappant ähnliche Züge auf.

Im ersten Stock sitze ich mit meinem serbischen Freund im Pressezentrum der Armee. Dragan hat zehn Jahre als Computerfachmann in Deutschland gearbeitet, jetzt betreut er die seltenen ausländischen Journalisten, die an die Tuzla-Front oben im Majevica-Gebirge bei Bijeljina kommen. Sein Haus in einem kleinen Dorf bei Bijeljina ist des Nachts schon mehrfach beschossen worden, obwohl die Front 20 Kilometer entfernt ist.

Aber Dragan hat die Übergriffe und Greuel serbischer Banden schon öfter bei der Armee angezeigt und lebt seither gefährlich. In Bijeljina und vielen anderen Orten zahlen Gastwirte und Geschäftsleute Schutzgelder an die Banden, und Dragan zeigt mir ein zertrümmertes Restaurant, dessen zahlungsunwilligem Besitzer wenige Tage vorher ein „Besuch- abgestattet wurde. In den Dörfern der Majevica haben Banden Frauen vergewaltigt und Häuser ausgeraubt, die Armee hat einige der Banditen verhaftet und erschossen. „Wojwoden-, Hauptleute etwa, nennen sich die Anführer. Ihre Villen sind weitab bekannt, so wie ihre neuesten Mercedes-Modelle hier in Bijeljina. Sie verschieben Waffen und Hilfslieferungen und treffen sich mit ihren „Moslem-Kollegen- („Begs- nennen sich die entsprechenden Anführer drüben) in den feinsten Hotels in Ungarn. Weite Teile der Polizei seien korrupt, meint Dragan. Für ihn ist der einzige stabile Faktor hier die Armee, aber es wird wohl auf den jeweiligen Kommandanten ankommen.

Der Oberstleutnant, der die Maje-vica-Front befehligt, stellt uns zum Beispiel einen Militär-LKW zur Verfügung, um in Österreich gespendete Winterkleidung zu den Flüchtlingen in Priboj und Modrica zu bringen.

Seine Verwandtschaft lebt in Wien. Ich kenne die Familie und glaube, daß man der serbischen Armee unrecht tut, wenn man sie ausnahmslos mit den marodierenden Söldnern eines Bokan oder Seselj in einen Topf wirft. Diese haben in Bijeljina im Mai vergangenen Jahres Tausende von Moslems vertrieben und viele von ihnen grausam ermordet und in die Drina geworfen - so berichtete die Zeitung „Vrjeme- in Belgrad. Und „Vrjeme-deckt weiterhin serbische Übergriffe auf - aber bis auf wenige Ausnahmen gibt es keinerlei Ahndung dieser Verbrechen, und Vojislav Seselj ist fast täglich im dezenten Nadelstreif im Belgrader TV im Parlament zu sehen.

D r a g a n s Schwiegertochter ist Moslem, wir besuchen ihre Bekannten in einem Dorf bei Bijeljina. Sind das nun „Vorzeige-Moslems-für mich als Journalisten? Es gehe ihnen gut, erzählen sie mir. Als die serbischen Freischärler einrückten, seien sie geflüchtet. Serbische Nachbarn hätten sich inzwischen um das Vieh gekümmert, die Landwirtschaft betreut. Weil sie sich immer gegen die Serben loyal verhalten hätten, konnten sie zurückkehren. Militärpolizisten seien eigens von der Armee zum Schutz der zurückgekehrten Moslemfamilien abgestellt worden, die Armee habe ihnen eine Art, ersilschein-ausgestellt. Aber wenige Tage später

überfällt und sticht ein Serbe den moslemischen Familienvater nieder: Serbische Banden hatten der Mos-lemfamilie einen Ochsen geraubt und die hatte den Fall bei der Armee angezeigt.

Wenige Monate vorher erlebte ich ähnliches bei den Moslems: Im Dorf Osenik bei Sarajewo winkt mich eine junge Serbin zum Gartenzaun. Ob ich nicht helfen könne, fragt sie in gutem Englisch. Ihr Vater und Bruder seien seit Monaten im Gefängnis, sie dürfe sie nicht besuchen und der Vater sei schwerkrank. Obwohl der (moslemische) Gemeindearzt dem Vater eine Haftunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt habe, dürfen sie und ihre Mutter ihn weder besuchen noch nach Hause bringen. Von den Wachen würden sie bedroht, als „Tschetnik-Huren- beschimpft, sie wüßten nicht einmal, ob der Vater und der Bruder noch am Leben seien.

Meine Moslemfreunde, bei denen ich in Osenik wohne, wissen über den Fall. Sie sind hilflos: Die Flüchtlinge, die täglich hier ankommen und von Zerstörungen, Massakern und Vergewaltigungen durch Serben berichten, lassen kein Verständnis mehr für die Leiden auch der anderen Seite aufkommen. Ein zwölfjähriges Moslem-Mädchen hat den Verstand verloren, nachdem es serbischen Banden in die Hände gefallen war.

Polizeikontrolle an der Grenzbrük-ke über die Drina von Serbien in die „Republik der Serben-, das heißt in den „serbischen Staat- der Regierung Radovan Karadzic in Bosnien: Die Familie hinter mir wird von der Polizei aus dem Autobus geholt. Es sind Moslems und die dürfen nicht einfach reisen, wohin sie wollen. Der Mann schüttelt den Kopf, im Gesicht seiner Frau steigt Angst auf, das kleine Kind weint an ihrer Schulter, während sie Kinderspielzeug und Kinderfäustlinge aus dem Gepäcksnetz nimmt.

Die serbischen Passagiere sind ziemlich laut, als die drei durch den mit Taschen und Säcken vollgestopften Gang zur Tür gehen. Meine Sitznachbarin ist Deutsch-Professorin in Novi Sad (Wojwodina). Sie erklärte mir, was die Passagiere so von sich geben: Alle seien verbittert über die moslemischen Greuel. Die meisten sind Flüchtlinge aus der Gegend von Tuzla, hätten alles zurücklassen müssen auf der Flucht, Verwandte seien getötet worden, andere in Gefangenenlagern.

Niemand ergreift Partei für die aus dem Bus stolpernden Moslems mit ihrem weinenden Kind. Aber sind hier und überall in diesem Krieg diese Verbitterten zu verurteilen? Liegt nicht der größte Teil der Schuld bei Politikern und Propaganda-Journalisten, die die Menschen gegeneinander und in einen Krieg gehetzt haben, dessen Kontrolle den Verantwortlichen längst entglitten ist?

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