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Die großen „Wenn“

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Die Krisenstimmmunig in Großbritannien, durch ein umstrittenes, hart zupackendes Budget und die dadurch hervorgerufenen Panikkäufe noch weiter verschärft, ist noch düsterer geworden durch die Nachricht, daß der größte rein britische Kraftfahrzeugikonzern, die British Leyland Motor Corporation, einer der bedeutendsten Exporteure und Devisenforinger des Landes, kurz vor dem Bankrott stehe. Die einzige Rettung für diesen Lebensnerv Großbritanniens, für das damit verbundene Prestige der britischen Wirtschaft und für mehr als 150.000 Arbeitsplätze, so erklärte Premierminister Wilson tai Parlament, sei die Übernahme der Aktienmehrheit von British Leyland durch die Regierung gewesen, verbunden mit einer finanziellen Infusion aus der Staatskasse in Höhe von mehr als 2,5 Milliarden Pfund, verteilt über die nächsten acht Jahre. Und Schatzkanzler Healey, in dessen April-Budget diese Ausgabe zweifellos schon stillschweigend eingeplant war, hat es jetzt noch schwerer als bisher, die Notwendigkeit und Glaubwürdigkeit seiner finanzpolitischen Maßnahmen vor der Scylla der Laibour-Ldnken und der Charybdis der opponierenden Tories zu rechtfertigen.

Healey's Budget, sein viertes innerhalb von 13 Monaten, ist von der sogenannten Tribüne-Gruppe

am linken Flügel seiner Partei als Rettungsversuch für das kapitalistische System bezeichnet worden, während die konservative Parteiführerin Margaret Thatcher von einem typisch sozialistischen Budget sprach. Von „gleicher Verzweiflung für alle“.

Dessenungeachtet sind sich die führenden britischen Finanz- und Wirtschaftsexperten darüber einig, daß der Schatzkanzler mit seinem Budget nahezu alles getan hat, um den rauhen Realitäten .der gegenwärtigen Wirtschaftslage gerecht zu werden, und so wurde denn auch das Budget gerade von jenen Kreisen begrüßt, denen jeder brave Sozialist mit Mißtrauen gegenübersteht, nämlich von der Londoner City. Die Aktienpreise zogen stark sali der Börsenhandel belebte sich, und auch aus Industriellenkreisen vernahm man zögerndes Lob.

Es ist an und für sich nicht neu, so seltsam es auch scheinen mag, daß ein Labour-Schatzkanzler mit seinen Maßnahmen bei Finanz- und Wirtschaftsstrategen auf Anerkennung stößt. Er kann Steuer- und Sparmaßnahmen anordnen, die ein konservativer Kanzler kaum durchsetzen könnte, weil dieser nicht den gleichen Vertrauensvorschuß bei den Gewerkschaftern besäße. Und Mr. Healey kann darauf hinweisen, daß seine scheinbare Bevorzugung der Industrie, seine Bereitstellung

Britischer Schatzkanzler Healey: Geld für Autokonzern

Photo: Votava

von mehr Geldern für industrielle Investitionen, in erster Linie dem Zweck dient, auf lange Sicht mehr und gesichertere Arbeitsplätze zu schaffen.

Aber es ist vor allem ein Aspekt von Healey's Finanzpolitik, der weithin kommentiert wird und besonders in der Londoner City positive Aufnahme fand. Der Schatzkanzler bezeichnete erneut die Inflation als das Hauptproblem der britischen Wirtschaftskrise, und er äußerte sich

recht skeptisch über das bisher einzige sozialistische Rezept dagegen, nämlich den sogenannten Sozialkontrakt zwischen Regierung und Gewerkschaften. Aber Healey hat keine Alternative zum Sozialkontrakt vorgelegt, er hat vielmehr erklärt, es sei nun Sache des britischen Volkes, zu entscheiden, welchen Kurs das Land jetzt einschlagen werde. Neben dem hier enthaltenen klaren Hinweis auf das bevorstehende EG-Referendum — und der Pro-Europäer Healey kann keinen Trost aus der jüngsten Sonderkonferenz der Labourpartei schöpfen, die mit fast Zweidrittelmehrheit gegen die Empfehlungen ihrer eigenen Regierung und damit geigen Europa stimmte — neben diesem Hinweis also hat damit zum erstenmal ein führendes Regierungsmitglied zugegeben, daß die Regierung nicht allmächtig ist oder sein will, was die Kontrolle der wirtschaftlichen Entwicklung betrifft.

Wenn das britische Volk demnächst einmal erkennt — und dieser Erkenntnis bei der Volksabstimmung im Juni entsprechenden Ausdruck verleiht —, daß Großbritannien die Europäische Gemeinschaft minde-

stens ebenso braucht wie diese Großbritannien, und wenn die britischen Gewerkschaftler einsehen lernen, daß des einen Lohnerhöhung des anderen Arbeitsplatz bedeuten kann, dann könnte die recht konfuse Europapolitik der Regierung das Land doch noch in den richtigen und einzig möglichen Hafen lenken, und das couragierte Budget des Schatzkanzlers könnte der erste Schritt auf dem langen Weg Großbritanniens aus der gegenwärtigen Wirtschaftsmisere sein.

Und wenn alle diese großen „Wenn“ wirklich überwunden werden können, dann wird man vielleicht auch nicht mehr die peinliche Frage stellen müssen, warum ein Riesenkonzern wie British Leyland, noch vor wenigen Jahren als Musterbeispiel britischen Unternehmergeistes gepriesen, an den Rand des Ruins kommen konnte, so daß ein Schatzkanzler, der so wie Dennis Healey auf eine Einsparung öffentlicher Ausgaben bedacht sein sollte, diesem Unternehmen jetzt aus Staatsgeldern Mittel zur Verfügung stellen muß, die sich für die nächsten Jahre auf fast eine Million Pfund pro Tag belaufen.

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