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Die heile Welt der Programme

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In der modernen Demokratie wechseln die Regierungen nur zum kleineren Teil, weil sie unfähig geblieben oder geworden sind. Wohl stimmt es, daß sie sich in ihrer Verantwortung „erschöpfen“ oder „verschleißen“, aber nicht so sehr, weil das Wählerpublikum sporadisch eine bessere, sondern weil es offenbar eine neue Regierung will. Lebt die Demokratie bereits vom Wechsel um des Wechsels willen?

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In der modernen Demokratie wechseln die Regierungen nur zum kleineren Teil, weil sie unfähig geblieben oder geworden sind. Wohl stimmt es, daß sie sich in ihrer Verantwortung „erschöpfen“ oder „verschleißen“, aber nicht so sehr, weil das Wählerpublikum sporadisch eine bessere, sondern weil es offenbar eine neue Regierung will. Lebt die Demokratie bereits vom Wechsel um des Wechsels willen?

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Seit Regierungsprogramme und politische Werbeaussagen eine immer frappantere Übereinstimmung aufweisen, scheint die Aufrechterhaltung des demokratischen Wechselspiels tatsächlich mehr und mehr der einzige Zweck des parlamentarischen Systems zu werden. Für die Natio nalratswahlen im März 1970 zog die „konservative“ ÖVP mit der eher dynamischen Parole „Fortschritt und Sicherheit“ in den (Wahl-) Kampf; diesmal hat die regierende Sozialistische Partei zur alten ÖVP-Aussage „Sicherheit und Fortschritt“ gegriffen.

Damals, im Winter 1970, warb die „progressive“ SPÖ mit einem umfangreichen, von angeblich 1400 Experten verfaßten Programm um das Vertrauen der österreichischen Wähler; die gerade noch regierende ÖVP beließ es hingegen bei einem „Arbeitsprogramm“, das weder der Präsentationsform noch dem Inhalt nach damals aktuellen Bedürfnissen entsprach. Heute kämpft die Volkspartei in der Position einer Oppositionspartei mit „107 Ideen für Österreich“ um die Gunst der Wähler; die SPÖ wiederum hat akzeptiert, daß ihr Vorsitzender Kreisky ein eigenes, größtenteils selbstverfaßtes Programm den Wählern als Werbegut seiner Partei vorlegt. Von der FPÖ kann hier nur am Rande die Rede sein: traditionsgemäß hat sie kein Programm.

Programm als Mittel, Wahlen zu gewinnen

In seiner berühmten Studie über „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ hat der österreichische Ökonom Joseph A. Schumpeter den Gedanken des wirtschaftlichen Wettbewerbs auch auf die Demokratie angewendet. Demokratie ist nach Schumpeter eine Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei der einzelne — die Politiker — Entscheidungsbefugnis „mittels eines Konkurrenzkampfes um die Stimme des Volkes erwerben“. Auf diese Charakterisierung hat später der amerikanische Ökonom Downs zurückgegriffen, um eine Verbindung zwischen Wirtschaftstheorie und politischer Theorie herzustellen. Darin sind die politischen Programme Mittel, um Wahlen zu gewinnen und nicht in erster Linie Vorschläge der Gemeinwohlverwirk- lichung. So wie ein Bäcker nicht Brot erzeugt, um damit die Bevölkerung zu versorgen, sondern um Geld zu verdienen und davon leben zu können, so sehr ist auch in der Politik die Erfüllung sozialer Funktionen nur ein Nebenprodukt des egoistischen menschlichen Handelns.

Rekapituliert man diese politolo- gisch-ökonomischen Theorien, wird die frappante Querverbindung zwischen Theorie und österreichischer Praxis klar. Nach einer geraumen Weile der Charismatiker an der Spitze der beiden großen österreichischen Parteien und der Regierung haben beide Großparteien — die eine früher als die andere — auf Pragmatiker gesetzt. Das hat in der SPÖ auf das Wahlprogramm für den Wahlgang am 1. März abgefärbt; nun bestimmt es die Ziele und Aussagen des ÖVP-Wahlprogrammes. Damit der „10. Oktober 1971… nicht zum Beginn einer längeren sozialistischen Herrschaft über . „Österreich werde, sondern „zu einem Tag des Fortschritts Österreichs im Interesse aller Bürger unseres Landes“, hat sich die ÖVP zu einem Programm durchgerungen, das ihre Überzeugung widerspiegelt, „daß sich im Österreich von morgen ein besseres Leben verwirklichen läßt“. Dieses Programm soll „dem Ziel eines besseren, gesünderen und glücklicheren Lebens für alle unsere Mitbürger um einen entscheidender Schritt näherkommen.“ Schon die Textierung der Präambel bestätigt die Thesen Downs und Schumpeters: erst wird fixiert, was nicht sein darf, „eine längere sozialistische Herrschaft über Österreich“; dann werden 107 Vorschläge, Ideen, Initiativen (die ÖVP-Werbung schwankt noch bei der Wahl des Programmfirmenschildes) abgespult.

Viele der Lösungsvorschläge im ÖVP-Wahlprogramm liegen abseits der bislang verfolgten Volkspartei- Linie (siehe „Furche“ Nr. 35): dies gilt insbesondere für die Programmpunkte „Gesünderes Leben“ (Abschaffung der 3. Klasse in den öffentlichen Spitälern ohne zusätzliche Belastung für den Patienten, Organisation eines Hauspflegedienstes), die Forcierung einer chancengleichen Frau (Einführung einer freiwilligen Haus- frauen-Unfallversicherung), Verschönerung der Welt des Kindes (Recht auf einen Kindergartenplatz); „Vermögen für alle“ (Schaffung eines gesetzlichen, auch durch Prämiengewährung geförderten Systems der Vermögensbildung insbesondere auch für Arbeitnehmer, das eine attraktive Verzinsung sichert; Förderung der freiwilligen Firmenbeteiligung von Angestellten und Arbeitern).

Sehr viele Programmpunkte sind ÖVP-typisch: der außenpolitische Teil, der agrarische Teil und insbesondere der Teil „Schöpferisches Leben“. Einiges wäre besser gar nicht, als so verschwommen formuliert worden: Vorrang der inneren (?) Schulreform; stärkere Mitbestimmung der Arbeitnehmer durch Förderung der Partnerschaft im Betrieb. Ein Vorschlag schließlich, so gut und schön er ist, macht verständlich, warum die ÖVP ihrem Wahlprogramm kein Finanzierungskonzept beigelegt hat: die Forderung nach dem Auslaufen der befristeten Son-

dersteuer zur Entlastung der Steuerzahler. Es soll hier gar nicht der landesüblichen Programmflnanzie- rungshysterie das Wort geredet werden. Parteiprogramme dienen in Demokratien nicht zuletzt als Alternativen zu den Programmen konkurrierender Parteien. Prioritäten, die sich kurzfristig verwirklichen lassen, sind entscheidend; im long-run ändern sich die Prioritätenskalen mit den Bedürfnissen der Menschen, für die sie aufgestellt wurden. Gerade deshalb muß das (kaum realisierbare) Versprechen, die Sondersteuern auslaufen zu lassen und gleichzeitig,die genannten kurzfristigen-Versprechen- einzulösen, verstimmen, weil sich dabei illusionistisches Programmieren mit ungezügelter Demagogie trifft. Darin hat bislang die SPÖ und die von ihr gestellte Regierung zu mißfallen gewußt; an der ÖVP ist das neu. Politik soll (wieder) ehrlich sein; das darf nicht bloß Forderung, das muß auch Verpflichtung für eine Partei sein, die — unter anderem — mit diesem Slogan Wähler ansprechen will.

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