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Die Heimfahrt

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Ich finde mir ein leeres Coupe, setze mich ans Fenster, aber noch ehe der Zug anfährt, führt der Schaffner einen Blinden herein, einen jüngeren Mann, mithilfe der Versicherung, daß bis auf meinen Platz alles frei sei, gebe ich mich ihm als Mitreisende zu erkennen, und er entscheidet sich, vom Schaffner zuerst auf den Mittelsitz der anderen Reihe bugsiert, für den Platz neben der Tür, also für höchstens einseitige Behinderung durch einen Nachbarn (daß er sich genau so gut ans Fenster setzen können hätte und daß sich dies, auch wenn ein Fensterplatz keine Verpflichtung enthält, wie die Selbstentlarvung eines Betrügers ausgenommen hätte, fällt mir erst ein, als ich froh bin, daß er es nicht getan hat; gegen die Fahrtrichtung zu sitzen könnte aber auch ihm so unangenehm sein wie mir trotz heruntergelassener Jalousien auch in der Nacht, sofern das Gleichgewichtsorgan eines, dessen Orientierung am wenigsten durch das Auge geschieht, nicht auf ganz andere Anpassung trainiert ist) um ihm die Eingewöhnung an diese Fahrt zu erleichtern, bemühe ich mich ihn nicht alleiner zu lassen, als er es ohnehin ist: er soll sich, indem ich dies und das sage, ein Bild von mir machen und die Gewißheit haben, daß ich ihm diese und jene Gefälligkeit erweisen würde -ich sage etwas über die ärgerliche Verspätung, lasse mir von ihm deren von mir am Bahnhof von Frankfurt genau so gehörte Lautsprecherrechtfertigung wiedergeben (hält er, um sich für sein Schicksal zu entschädigen bzw. weil er wohl viel besser hört und aufmerksam überall hinhorcht, Sehende für schwerhörig oder über das Ohr für begriffsstutzig?) stelle aber ihr Ausmaß richtig (fünfundzwanzig Minuten hat es geheißen, jetzt sind es vierzig Minuten geworden) und nehme mir vor, während der Fahrt hin und wieder unauffällig Zeitangaben in das Gespräch zu streuen (mein Gott, jetzt um . . . Uhr sollten wir doch schon in ... sein!, könnte ich sagen, nicht aber, daß sich die Fahrt besonders zieht, er würde das vielleicht auf seine anstrengende Gesellschaft beziehen oder die Bitterkeit hinunterwürgen müssen, wie wenig sich einer den anderen vorstellen kann, wie lang erst für seinesgleichen die immer gleichen Nachtfahrten dauern), damit er nicht wie ein kleines Kind oder einer ohne eigene Uhr nach der Zeit fragen muß - diesen Vorsatz kann ich bald vergessen samt der Sorge vor einer anstrengenden Konversation, denn er hat ein kleines Radio bei sich, rücksichtsvollerweise mit Kopfhörern ausgestattet, dessen Empfang allerdings, wie er mir während verschiedener Hantierungen bestätigt, durch die Oberleitung gestört ist, ja er wird meiner überhaupt nicht bedürfen, denn was er aus der in unsichtbare und so und so viele Handbreiten messende Fächer gegliederten Aktentasche nimmt, bekommt in der Ablage unterm Gepäcksnetz einen dem Ordnungssystem der Tasche entsprechenden Platz zugeteilt, sodaß er, mit der Hand kurz Maß nehmend, immer nach dem Richtigen greift. wie auf der Hinfahrt ist nun wieder an vielen, meist Bahnhöfen angeschlossenen Lagerräumen und Silos das Zeichen BayWa zu sehen, von einem grünen Quadrat umschlossen - ihn als Bayern könnte ich nach dem vollen Wortlaut dieser Abkürzungen fragen, aber muß er sie kennen, wenn er blind geboren ist und beispielsweise nicht manchmal mit einem sich im Buchstabieren übenden Kind spazieren geht -würde er mir, wenn er erst vor einigen Jahren erblindet wäre, „zu meiner Zeit hat es diese Aufschrift, glaube ich, noch nicht gegeben?” antworten müssen? so unterdrücke ich auch die Frage, ob der Fluß, den wir nun entlang fahren, der Main ist und, wenn ja, für den Schiffsverkehr aufgestaut worden oder bloß durch eine radikale Hochwasserregulierung zu einem Kanal geworden ist -selbst wenn es ihn freuen könnte, bewiesen zu bekommen, daß Wissen nichts mit ,mit eigenen Augen gesehen haben' zu tun haben muß, will ich nicht sehen, wie er, mir antwortend, sich nicht zum Fenster drehen würde, schon gar nicht, daß er dies aus Gewohnheit noch täte, will nicht die Erkenntnis verursachen (fast wollte ich schreiben: ,will ihm nicht drastisch vor Augen führen'), daß er, wie gut er auch über seine Heimat orientiert, als: informiert sein mag, nicht nur von dieser einen Nachmittagsstimmung des Flusses oder Kanals zu meiner Rechten bestenfalls eine vage, aber unüberprüfbare Vorstellung hat, sondern auch über vieles andere eigentlich keine Anschauungen, sondern nur Vermutungen oder einen Glauben haben kann. ich werde mit ihm nur über solches mich unterhalten, was auch ich nur bilderlos kenne, was bleibt da als Gesprächsstoff übrig außer Rundfunkmeldungen über Wirtschaft und Politik oder das, worüber ich nicht sprechen kann, wie zum Beispiel Musik? möglicherweise aber würde er mir, wenn ich die Courage hätte, es auf einen Versuch ankommen zu lassen, statt aus möglicherweise falsch verstandenem Takt seine Blindheit totzuschweigen wie einen Skandal, die Unbefangenheit danken, mit der ich ihn über bestimmte Wahrnehmungen des Gesichtssinnes bzw. über Ersatzleistungen der anderen Sinne befragte, stolz auf meine Verwunderung, wie viel er ohne zu sehen eigentlich sieht - oder könnte er, unwillig, daß mich an seiner Invalidität vor allem das interessiert, was mich einen Imker über die Bienensprache oder einen Ornithologen über den Vogelflug zu befragen ob er veranlassen würde, meiner Neugierde empfehlen, ich solle mir die Augen ausstechen, dann könnte ich die Geheimnisse der Welt des Blinden authentisch erkunden?

, jöh, zwei Störche!” - es hätte nicht viel gefehlt, daß mir dieser Ausruf entfahren wäre, aber zum Glück sind nur Muskel-, nicht aber Wortreflexe nicht mehr zu stoppen, was sonst als: „schauen Sie, schnell!” hätte dieses „jöh” bedeutet; noch ein Storch fliegt auf, ich bleibe ruhig, und trotzdem fürchte ich von nun an, aus lauter Vorsicht das Allerunmöglichste zu sagen; wenn ich nur nicht mit ihm zu reden begonnen hätte! wer weiß, widerspricht meiner Unsicherheit und meinem Mitleid mein Auge, ob dieser Bursche, der offensichtlich am Essen viel Freude hat (und sich sogleich sein Jausenbrot gut schmecken läßt), sich aus Störchen etwas machen würde, er würde wohl auch unter anderen Umständen vorsieh hindösen, Schlager hören, aber kaum lesen - warum nicht sollte er die Verfeinerung seiner Sinneswahrnehmungen, zu der ihn seine Blindheit gezwungen hat, seiner Natur entsprechend durch primitivere Freuden ausgleichen, warum sollte er nicht Bedürfnis nach Bier haben dürfen, wenn ihm Bier zu trinken die Ängstlichkeit und das Mißtrauen mancher Leidensgenossen erspart? (in dem Augenblick aber, in dem er nach etwas greift, werden die groben Tischlerhände zu einem feinen Instrument) der Waggon ist gut geheizt, trotzdem läßt er den Mantel an und den Schal um den Hals - eine Sorge wie die, er werde nicht rechtzeitig in den Mantel zurückfinden, kann das nicht sein: ist er gegen Kälte und Hitze unempfindlich, Ausgleich für die Höchstleistungen seines Tastsinns, oder ist ihm der Mantel eine Rüstung, der Schal ein symbolisches Visier? einmal pro Woche fahre er diese Strecke - von dieser Mitteilung an (er spricht nicht Bayrisch, sondern Hochdeutsch) warte ich längere Zeit auf eine mich aus meiner Befangenheit befreiende Bemerkung wie zum Beispiel die, ich solle nun linkerhand schauen, gleich müsse die Ruine Soundso aus einem bewaldeten Hügel auftauchen, die jetzt durchfahrene Landschaft, vor allem der Mischwald, sei typisch für die Pfalz, aber gewohnt sich selbst zu führen, mag er nicht den Fremdenführer machen oder mit jemand Fremden über Unbegreifbares, nie von seinen Augen Abgwandertes und daher Ubernatürliches Gebliebenes wie über etwas Reales reden: indem er in seine Schlagermusik vertieft bleibt, verwehrt er es mir, ihm die Langeweile durch Kommentare am Zugfenster zu vertreiben, läßt er sich die Möglichkeit entgegen, mir einige Schleppkähne dank ihren Flaggen identifizieren zu helfen - oder wäre es für seinesgleichen besonders schwer, Blaugrün-rot' ist die Landesfarbe von . .. sich zu merken? immer wieder probiert er an seinem Radio herum, fährt dabei zuerst fast sich, dann mit der ganz ausgezogenen Antenne fast auch mir in die Augen müßte er „blindlings” wie mit einem Degen mit ihr herumfuchteln, daß ich mich endlich „Vorsicht!” zu sagen getraute?

Nebel fällt ein, das bringt mich ihm einen Schritt näher, gleich kann ich, ohne besonders acht zu geben, die Frage, wie es mir in Frankfurt gefallen habe, fehlerlos beantworten: die großen Autostraßen reichen aus, daß ich ohne Zuhilfenahme der Hochhäuser die Amerikanisierung der Stadt kennzeichnen kann, die Klippe .Buchmesse' muß nicht umschifft werden, denn wiewohl sie das Ziel meiner Reise war, habe ich schon vergessen, daß ich mit Büchern zu tun habe, sosehr terrorisiert seine Gegenwart mein Bewußtsein - Namen fränkischer Spezialitäten fallen mir ein, er erklärt mir diese mit Gusto.

„darf ich die Heizung abdrehen?”, rette ich mich, denn ich war „Licht einschalten” im Begriff zu sagen - nur warum soll ich nicht lesen dürfen, wenn er Radio hört und mich nun durch die Verwendung der Kopfhörer taub macht? zuerst habe ich eher verstohlen aus dem Fenster geschaut, jetzt blättere ich ungeniert in der Zeitung, mein Lesen soll nichts von der Heimlichkeit haben, mit der ich ihm hin und wieder ins Gesicht schaue, ganz kurz, er könnte meinen Blick spüren. er zieht eine Tafel Schokolade aus der Brusttasche, stopft sich fast eine ganze Rippe in den Mund (ist dies ein Indiz dafür, daß er spätestens als Fünfjähriger erblindet ist?) und bietet dann auch mir an - gut, daß niemand anderer da ist, wie peinlich wäre das heutzutage üblich .danke nein, ich muß auf meine Linie schauen!” nach einem kleinen Zögern wischt er sich die Schokoladefinger in einem Taschentuch ab - das Anstrengendste für ihn muß sein, daß er sich niemals unbeobachtet wissen kann; wie gern hätte er sich jetzt überzeugt, ob er nicht schnell den Finger ablecken kann! (und da hat er sich auch schon eines Besseren besonnen) eine Station, wieder steigt niemand zu - er wird doch nicht einen männlichen Mitreisenden immer dringender vermissen? die Heizung ist nicht zu drosseln, aber die Rücksicht auf seine Menschenwürde verbietet es mir, den Pullover gegen eine Bluse zu tauschen. jetzt hört er Nachrichten, ich lasse mir ein paar Neuigkeiten berichten; und überhört, wie ich hoffe, den Fauxpas, der mir mit der Bemerkung „wie ein so erfahrener Politiker so verblendet sein kann!” unterläuft. die Dämmerung hat sich vertieft -jetzt müßten wir schon in Regensburg sein, sagt er, sind schon Häuser zu sehen? froh, daß es draußen stockfinster ist, kann ich ihm nun beweisen, daß mich die Fahrt durch den Abend ihm angeglichen hat, denn ihm seinen Alltageszeitblick beschreibend, sage ich: kein Licht ist zu sehen, gar nichts, nur stockfinstere Nacht, aber der Schaffner wird sich schon rechtzeitig melden, und und da kommt durch unseren Lautsprecher auch schon die Anweisung des Blindenführers: „meine Damen und Herren, wir treffen in Kürze in Regensburg ein. der Ausstieg befindet sich in Fahrtrichtung links!”

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