6926915-1982_14_21.jpg
Digital In Arbeit

Die Herrschaft von Rattengesetzen"

Werbung
Werbung
Werbung

Paradoxe Bilder, zur Groteske gesteigerte Satire, eine Logik, die „das Innere nach außen kehrt". Komik, Posse, Schwank, Poesie und Zoten, alles das sind Bestandteile von Alexander Si-nowjews Erstling „Gähnende Höhen", der sich in scheinbarem Wirrwarr von Exkursen, Traktaten, Mono- und Dialogen, Notizen, Briefen und Legenden über mehr als tausend Seiten hinzieht. Allein aus dem Nebel phantastischer Darstellung entsteht das Bild der Wirklichkeit, der erschreckenden, Orwellschen sowjetischen Realität.

Die Handlung, wenn es überhaupt eine solche gibt, spielt im imaginären Ibansk — ein aus dem russischen Vulgärvokabular für Kopulation und dem Allerwelts-namen Iwan gebildetes Wort. Ibansk ist Moskau und sein Imperium.

Zur Charakterisierung der Ibansker, will heißen: der sowjetischen Gesellschaft und des Sowjetmenschen, formt der Autor ein System paradoxaler Bilder. Schon der Titel ist ein Paradoxon: er könnte mit gleichem Recht .jagende Tiefen" lauten, verbände sich mit der russischen Aufschrift nicht eine Paraphrase auf die sowjetische Losung von den „strahlenden Höhen des Kommunismus" - eine von abertausend Fingerzeigen auf östliche Geschichte und Heilslehre.

Das Leben in Ibansk ist absurd. Aber jedes absurde Phantasiegebilde trägt in sich das Element des Klaren und Offensichtlichen.

Als die „Gähnenden Höhen" Ende 1977 auf russisch im Westen erschienen, war Alexander Sino-wjew noch Philosophie- und Logikprofessor an der Moskauer Universität. Die Behörden reagierten postwendend und mit Härte: Aberkennung aller akademischen Würden und Ämter, soziale Ächtung, Ausschluß aus der im Reiche Breschnews allein seligmachenden Partei, Beschattung durch die Sicherheitsorgane.

Im August 1978 wurde Sinowjew in den Westen entlassen, doch hätte er genausogut in Lager oder Heilanstalt landen können. Sein literarischer Geniestreich, in

halbjähriger Arbeit niedergeschrieben, ist für die Zuständigen im Kreml der Gipfel von „antisowjetischer Verleumdung", wie der einschlägige Begriff heißt.

Gipfel der Entlarvung des sowjetischen Systems und Gesellschaftslebens allerdings! Solchermaßen haben die Wächter unter dem Hammer-und-Sichel-Emblem sehr wohl die Gefahr erkannt, die von diesem Opus ausgeht. Enthüllung der Natur des Systems nicht von einer Warte außerhalb, sondern mitten in ihm selbst.

Nicht umsonst wird der Autor nach Erscheinen der „Höhen" in einem Atemzug mit Solschenizyn, mit den großen Satirikern der Weltliteratur (Swift, Rabelais, Saltykow-Schtschedrin) und den Utopisten (Samjatin, Orwell) genannt.

Sinowjew ist die wohl einzigartige Kombination eines sprachgewaltigen Schreibers und eines glasklar denkenden Logikers. Der Wissenschaftler mit der glänzenden Feder, der sich wissenschaftlicher Methode und des Instrumentariums der Logik bedient, um der ibanskisch/sowjetischen Absurdität zu Leibe zu rücken. Marxismus sei keine Wissenschaft, sondern Ideologie, die wissenschaftlicher Widerlegung ent-rät. Also schlägt er die Weltanschauung bei ihren Auswirkungen: im menschlichen Alltag.

Bei der (keineswegs leichten) Lektüre der „Gähnenden Höhen" weicht das Schmunzeln über Kalauer und Barackenjargon angesichts der grauenhaften Szenerie aus unzähligen alltäglichen Details sehr bald dem Ernst. Es ist das tief wurzelnde Modell von Sozialismus und sowjetischer Gesellschaft, das sich nach seinen ureigensten Gesetzen bewegt. Das Produkt eines Intellektuellen, der sich der Gefahren bewußt ist, die vom „Siegeszug des Kommunismus" für Mensch und Menschheit ausgehen.

Schon im Titel kommt dieses Phänomen zum Ausdruck: Kommunismus ist gähnende Leere. Oder konkreter: „Ein besonderer Typ von Gesellschaft, in dem Heuchelei, Gewalttätigkeit, Korruption, Mißwirtschaft, Entpersönlichung, Verantwortungslosigkeit, Pfuscherei, Gemeinheit, Faulheit, Desinformation, Betrug, Mittelmaß, Dienstprivilegienwesen und dergleichen mehr blühen und gedeihen. Was sich konsolidiert ist eine entstellte Wertschätzung der Persönlichkeit. Nichtige Nullen genießen höchste Anerkennung, bedeutende Persönlichkeiten hingegen werden gedemütigt..."

Sinowjew räumt radikal mit verschiedenen vorgefaßten Meinungen auf, denen sowohl Russo-phile wie Dissidenten anhängen. Letztere werden nicht gerade mit besonderer Wertschätzung bedacht. Gar erst die Intellektuellen erscheinen in höchst zweifelhaftem Licht, sind korrupt, buckeln und schleimen vor den Partokra-ten, um gesellschaftlich aufzusteigen und beruflich zu reüssieren.

Die angeblich so rätselhafte russische Seele verliert bei Sinowjew ihren Mythos und löst sich in Allzu-Menschliches auf. Schließlich der naive Glaube an die Dichotomie in „gutes, geplagtes, unterdrücktes russisches Volk" und „böse Sowjetmacht", bestehend aus Kriminellen, die der Menge dieses System aufgezwungen haben:

„Das ibanskische Volk hat sich den Ibanismus freiwillig aufgehalst und ist bereits nicht mehr imstande, ohne ihn zu leben. Er leuchtet ihm auf seinem Weg... Die Periode der Verwirrung macht deutlich, daß er sich auch ohne Zwang gehalten hätte und auch ohne Zutun von außen entstanden wäre. Denn er ist das Produkt der ureigensten Lebenstätigkeit dieser Gesellschaft."

Wer eine umfassende Enzyklopädie des sowjetischen Daseins sucht, schlage in Sinowjews Wälzer nach, dort bleibt keine Frage unbeantwortet.

Hinter allen diesen desillusio-nierenden Einsichten in das Leben steht die theoretische Konzeption Sinowjews, ohne deren Verständnis der totale Kritizismus verborgen bleibt: jene der sozialen Gesetze, des sozialen Individuums, des sozialen Systems, der Sozialität überhaupt.

Voraussetzung für die Herrschaft der sozialen Gesetze in einer Gesellschaft und für die Umformung des Menschen in ein soziales Individuum ist nach Sinowjew die Unterdrückung und Beseitigung solcher Faktoren wie „Moral, Recht, Sittlichkeit, Kunst, Religion, Presse, Öffentlichkeit, Publizität, öffentliche Meinung."

Der Schwätzer analysiert das Gruppenverhalten von Versuchsratten. Dabei stellt sich heraus, daß die grundlegenden Verhaltensprinzipien von sozialen Individuen mit jenen von Ratten übereinstimmen.

Sozialismus (kommunistischer Lesart) ist also die Herrschaft von Rattengesetzen, Umbildung jedes einzelnen Menschen in der sozialistischen Gesellschaft zur Person, die unter Rattengesetzen lebt und ihnen entspricht.

GÄHNENDE HOHEN. Von Alexander Sinowjew. Diogenes Verlag, Zürich 1981. 1091 Seiten, Ln.. öS 338,80.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung