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Die Illusion vom Überleben

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„Atomanlagen, die wir heute verhindern, können uns morgen nicht radioaktiv verseuchen.“ Auf diesen einfachen Nenner bringt der Umweltwissenschafter Peter Weish von der österreichischen Akademie der Wissenschaften die wirksamste Maßnahme zum Schutz von Mensch und Natur vor den Gefahren, die das Betreiben von Atommeilern zwangsläufig mit sich bringt.

Auch wenn der Unfall im sowjetischen Kernreaktor von Tschernobyl allen Europäern schmerzlich bewußt gemacht hat, daß 1000 Kilometer und mehr Entfernung von der Unglücksstelle kein Hindernis für radioaktive Niederschläge sind: Die meisten Strahlenschutzmaßnahmen erweisen sich spätestens im Ernstfall als zumindest nicht effizient genug.

Und das gilt nicht nur für Österreich, wo Politiker den atomaren Unfall in der UdSSR wieder einmal zum Anlaß genommen haben, um ein „wirkungsvolles“ Zivilschutzkonzept einzumahnen.

Zum Beispiel weiß man auch über die Zivilschutzmaßnahmen in der Sowjetunion zumindest soviel: Jeder Sowjetbürger erfährt regelmäßig eine gewisse Ausbildung in Zivilschutz, für ganze

Städte und Gebiete wurden für den Fall einer großflächigen radioaktiven Verseuchung Evakuierungspläne erstellt. Jährlich läßt sich der Sowjetstaat diese Zivilschutzmaßnahmen rund 20 Millarden Schilling kosten.

Und dennoch: Im Fall Tschernobyl wurden nur Teile der Bevölkerung innerhalb eines engen Sicherheitsgürtels evakuiert.

Ähnliches gilt für Schweden, wo die radioaktive Wolke aus der Ukraine zuerst aufgetaucht ist: Nach der Schweiz zählt Schweden zum am besten mit Schutzräumen ausgestatteten Land Europas. Nahezu für jeden der acht Millionen Bürger gibt es einen Schutzraumplatz. Obwohl die Strahlenbelastung nach Tschernobyl zeitweise auf das Hundertfache des normalen Werts angestiegen ist, wurden die Schutzräume dennoch nicht bezogen. Wohl der Hauptgrund dafür: Einige Tage Aufenthalt im strahlensicheren Bunker können nur wenig daran ändern, daß die Aufnahme von radioaktiven Stoffen in die Nahrungskette letztlich doch noch gesundheitliche Spätfolgen hervorruft.

In Österreich existieren derzeit rund 350.000 Schutzräume, fünf Prozent davon (rund 17.500) gelten als „voll ausgestattet“. 240 Millionen Schilling pro Jahr gibt das Bautenministerium für die Errichtung von Schutzräumen in öffentlichen Gebäuden aus, eine Müliarde Schilling steht aus Mitteln der Wohnbauförderung für den privaten Schutzraumbau zur Verfügung.

Der Innenminister hat die generelle Zivilschutzkompetenz, der Gesundheitsminister fungiert als oberste Strahlenschutzbehör-de. Der Bautenminister macht das Geld flüssig. Allein schon aus diesem Kompetenzwirrwarr wird ersichtlich, daß der Zivilschutz in Österreich nicht viel mehr als eine Alibifunktion haben kann. ., Auch aus diesen Gründen und aus der Analyse der internationalen Praxis des Zivilschutzes kommen Heinz Hattinger und Peter Steyrer in einem eben erschienenen Buch zu der Schlußfolgerung: Zivilschutz hat nicht viel mehr als die Funktion, „die Illusion vom Uberleben“ zu erhalten. Tatsächlich bleiben nach dem Unfall in Tschernobyl wohl nur die Schutzraum-Verkäufer als einzige Gewinner übrig.

DIE ILLUSION VOM UBERLEBEN. Zi-vüschutz in Österreich. Von Heinz Hattinger und Peter Steyrer. Verlag für Gesellschaftskritik, Wien 1986.

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