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Die Jugend flieht aus der Realität

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Es ist ein Vorrecht der Jugend, sich gegen das Bestehende und Konventionelle aufzulehnen. Biologische Gesetzmäßigkeiten rufen beim Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter Spannungen und Risse hervor. Werden diese entwicklungsphysiologischen Gesetze mißachtet, unterdrückt oder gar in falsche Bahnen gelenkt, kann schnell aus einem normalen Entwicklungsphänomen ein gesellschaftspolitisches Massenproblem werden.

Auf einerTagung von Kinderärzten in Bad Orb, hat Prof. Franz Schmid (Aschaffenburg), kürzlich mit großem Nachdruck auf diese biologischen Gesetzmäßigkeiten der Pubertät hingewiesen und gezeigt, welche Konflikte sich aus den körperlichen Veränderungen für den Heranwachsenden ergeben können. Die mit der Pubertät einsetzende Keimdrüsenfunktion führt zu einem unharmonischen, oft stürmischen Wachstumsschub. ,

Arme und Beine, besonders aber Hände und Füße, wachsen schneller als der Rumpf. So weiß der Jugendliche zwischen 12 und 14 Jahren oft

nicht so recht, was er mit seinen Gliedmaßen anfangen soll Die vorher harmonisch-selbstverständlichen Bewegungsabläufe werden unbeholfener, abrupter, zögernder und ängstlicher. Erst in der zweiten Hälfte der Pubertät findet der Heranwachsende zur Harmonie der Bewegungen zurück.

Die körperlichen Veränderungen konfrontieren den Jugendlichen aber auch mit psychischen Problemen, die meistens vom Geschlecht bestimmt werden. Mädchen haben oft Angst, zu groß zu werden; sie möchten auch nicht dick sein. Viele befürchten, daß ihre Brüste zu klein bleiben könnten. Mädchen tragen nicht geme eine Brille.

Die Jungen hingegen wollen meist größer sein, mehr Muskeln und breite Schultern haben. Sie setzen ihre körperlichen Möglichkeiten jetzt im Sport ganz bewußt ein. Viele Jungen plagt die Frage, ob ihr Geschlechtsorgan nicht zu klein sei. Der mit der hormonellen Umstellung verbundene stärkere Körpergeruch ruft sowohl beim Mädchen als auch beim Jungen Unsicherheit im Kontakt mit der Umwelt hervor.

Alle diese hormonell bedingten Veränderungen in der Pubertät haben - betont Prof. Schmid - viele unterschiedliche Auswirkungen: psychische Labilität, rasche Ermüdbarkeit, unberechenbare Reaktionen und Nervosität. Phasen der Unlust lösen Phasen der Angeberei ab. Stimmungen - himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt - charakterisieren oftmals diese Entwicklungsphase. In dieser Zeit der körperlichen Veränderungen und der psychisch bedingten Reaktionen fällt der Schul wechsel, der vielen Jugendlichen zusätzliche Schwierigkeiten bereiten muß. Alle diese „Auffälligkeiten“ sind normal und haben mit den klinisch bedingten Pubertätsstörun- g/en - vorzeitiges oder verzögertes Auftreten oder gar ausbleibende Pubertät - nichts zu tun.

Die eigentlichen Entwicklungsstörungen, die heute ein weltweites Problem ersten Ranges darstellen, treten nach Prof. Schmid, erst am Ende der Pubertät, beim Übergang zum Erwachsenenalter, also zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr, auf. Die Wurzeln dieser Störungen sind vorwiegend im Geistigen und im Psychisch-Sozialen sowie in der ökonomischen Differenzierung zu suchen.

Die Schwierigkeiten ergeben sich vor allem aus der unterschiedlichen Bewertung der Menschen aus der Umgebung und den eigenen Vorstellungen sowie . Empfindungen des Heranwachsenden. Der Jugendliche muß jetzt den eigenen Körperbau akzeptieren und in die Rolle eines Mannes oder einer Frau hineinwachsen. Es bahnen sich neue Beziehungen zu den Altersgenossen an und man be-

ginnt, sich vom Elternhaus zu lösen, strebt eine wirtschaftliche Unabhängigkeit an und verlangt nach eigener V erantwortung.

Der Heranwachsende steht dabei vor der Alternative, in den Hauptstrom der Gesellschaft eingegliedert zu werden oder gegen den Strom zu schwimmen. Das natürliche Mißtrauen gegen die Gesellschaft und ihre Institutionen (Familie, Staat, Kirche, Schule, politische Parteien) wird nach Auffassung von Prof. Schmid von beiden Gruppen unterschiedlich begründet.

„Der .entfremdete Jugendliche1 nimmt die wirtschaftlichen Annehmlichkeiten gern und selbstverständlich in Anspruch, kritisiert aber die Falschheit, Oberflächlichkeit und Scheinheiligkeit der Gesellschaft, die ihm diese Annehmlichkeiten vermittelt.“ Der „vernachlässigte Jugendliche“ hingegen lehnt sich gegen die wirtschaftliche Benachteiligung, die er immer wieder erfährt, auf.

Aus beiden Gruppen - den Entfremdeten und den Benachteiligten - rekrutieren sich religiöse Sektierer, politische Reformer, Aggressive, Sozialparasiten und antisoziale Gruppen. Dem Benachteiligten - wirtschaftlich unterprivilegiert, vom Milieu getragen und gefördert - gelingt nach einer Periode der Irrungen in der Regel die gesellschaftliche Integration leichter als dem Entfremdeten. Störungen in dieser letzten Entwicklungsperiode des Menschen können zur Realitätsflucht, zur Aggressivität und zur Kriminalität führen.

Die soziale Entwicklung des Jugendlichen wird zunächst einmal von seinem Verhältnis zur Familie, Schule und zu den Altersgenossen geprägt, erst dann kommen Staat und Kirche. „Je weniger klar umschriebene Werte eine Gesellschaft hat, um so weniger festgefügte Wertvorstellungen kann sie von der in ihr leben

den Jugend erwarten“, meinte Prof. Schmid.

„In den labilen Entwicklungsphasen stellen ein wertfreies oder wertarmes Milieu ein Vakuum dar, das zwangsläufig zur Flucht in Bereiche mit festen, wenn auch falschen oder verhängnisvollen Wertvorstellungen führt.“ Militärische Macht, materialistische Wirtschaftskämpfe und der rücksichtslose Einsatz der Technologie sind kein Ersatz für Ideale, die die Jugend sucht.

So greift der heranreifende Mensch zum Ersatz. Der Rausch der lauten Musik, die Tanzwut gepaart mit grellen Lichteffekten und ohrenbetäubenden Dissonanzen und die Flucht in die irreale Welt des Alkohols und der Drogen seien hier für viele andere Ersatzbefriedigungen genannt. Die Flucht aus dem Alltag kann so weit getrieben werden, daß am Ende die Aufgabe des eigenen Lebens, die Handlung gegen sich selbst steht.

Diese Betrachtungen eines Kinderarztes machen einige Probleme der Jugendlichen unserer Tage deutlich. Zugleich wird klar, daß den Heranwachsenden nicht durch Gesetze und Vorschriften geholfen werden kann. Was heute mehr denn je erforderlich scheint, ist ein besseres Verständnis für die Sorgen und Nöte der Erwachsenen von morgen.

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