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Die Kinderdörfer: eine Idee für alle Völker

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In Österreich geboren, hat die Kinderdorf-Idee die Welt erobert. Diese Art der Kinderbetreuung hat sich in den verschiedensten Kulturen bewährt - auch in China, wie der folgende Bericht zeigt.

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In Österreich geboren, hat die Kinderdorf-Idee die Welt erobert. Diese Art der Kinderbetreuung hat sich in den verschiedensten Kulturen bewährt - auch in China, wie der folgende Bericht zeigt.

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„Ich war ein paar anstrengende Wochen lang in Asien unterwegs. Ich fuhr von SOS-Kinderdorf zu SOS-Kinderdorf. Von den Ländern, die ich bereiste, sah ich so gut wie nichts. Trotzdem erlebte ich jeden zweiten und dritten Tag eine andere Welt, ein anderes Volk, eine andere Sprache, eine andere Kultur, eine andere Religion und andere Sitten. Unsere Kinderdörfer sind bodenständige, in ihr Land integrierte, von der Bevölkerung anerkannte und angenommene Einrichtungen. Sie sind ein lebendiger Beweis dafür, daß die.SOS-Kin-derdorf-Idee eine Idee für alle Völker ist, eine Idee also, welche die angestammten Eigenarten nicht verdrängt, sondern achtet, und ihnen inmitten einer desolaten Umwelt einen Rahmen gibt, sich neu zu entfalten.”

So schrieb Hermann Gmeiner in dem Jahr, in dem er die ersten persöri-lichen Kontakte zur Volksrepublik China aufnahm und in den Städten Tianjin und Yantai den Grundstein für die ersten chinesischen Kinderdörfer legte. Der Bericht von ihrer Fertigstellung war eine der letzten Nachrichten, die er vor seinem Tod 1986 erhielt. Im März 1992 wurde in der nordchinesischen Millionenstadt Qiqihar das dritte Kinderdorf eingeweiht; in Nanchang in Südchina soll bald ein viertes entstehen.

Fünf Jahre sind vergangen und es reizt nachzusehen, was aus diesen Projekten österreichischchinesischer Zusammenarbeit geworden ist.

In Tianjin, einer Industriestadt von sieben Millionen Menschen, mit einem modernen Container-Hafen am chinesischen Meer - von Peking über eine Schnellstraße in einer knappen Stunde erreichbar - erinnern noch viele Gebäude an die Ausländerviertel um die Jahrhundertwende. Sie wurden in den letzten Jahren geschickt restauriert und gehören zum Besichtigungsprogramm der Stadt.

Streng nach Tradition

Zu einer Touristenattraktion ist aber auch das im Stadtgebiet auf etwa drei Hektar angesiedelte Kinderdorf geworden, das mit seinen einstöckigen Giebelhäusern und Balkonterrassen der Umgebung gut angepaßt ist. Auf dem Gelände stehen 29 Gebäude, die zweckmäßig und geschmackvoll mit dem Notwendigsten eingerichtet sind. Zur Zeit leben hier in 16 Familien 120 Kinder, die von den Müttern ganz nach chinesischer Tradition streng aber liebevoll erzogen werden.

Schon die Kleinen helfen täglich bei der Haushaltsführung mit und tragen für die ihnen anvertrauten Aufgaben volle Verantwortung, können aber trotzdem ihre Talente frei entfalten, wie Musikalität, Begabung für Zeichnen, Akrobatik oder Tanz. Alle Kinder besuchen die öffentlichen Schulen bis zum 16. Lebensjahr und übersiedeln dann in das Jugendhaus, um in den städtischen Berufsschulen ihre Ausbildung fortzusetzen.

In einigen Fällen, was wegen der landesweiten äußerst schwierigen Aufnahmeprüfungen selten vorkommt, gelingt ein Universitätsstudium. Sobald ein Arbeitsplatz gefunden ist, verläßt das Kind endgültig das Dorf, meist im Alter von 20 Jahren. Die erste Generation hier aufgewachsener Kinder - die Überlebenden des verheerenden Erdbebens im Juli 1976, als 240.000 Menschen umkamen -halten aber noch immer engen Kontakt mit ihren Müttern im Kinderdorf und finden sich regelmäßig zum chinesischen Neujahrsfest ein.

Yantai ist ein geschäftiger, eisfreier Hafen an der Nordküste der im Osten Chinas gelegenen Shandong Halbinsel. Ursprünglich ein Fischerdorf und Flottenstützpunkt, wurde es ab 1862 zum Handelsplatz zwischen der Qing Dynastie und den Fremden, die sich hier jedoch nicht niederlassen durften. Nur Japaner und Amerikaner bauten im Siedlungsgebiet Lagerhäuser; ansonsten genoß Yantai den Ruf eines Kurortes. Heute ist die Stadt vor allem für seine Weine, Schnäpse und Obstsorten bekannt.

Das Kinderdorf liegt außerhalb, die Kinder benützen für den Schulweg das Fahrrad. Insgesamt wohnen hier auf fast vier Hektar 123 Kinder bei 15 Müttern in sauberen, praktisch eingerichteten Bungalows. Da die Mütter im Jahr vier Wochen Urlaub nehmen dürfen, stehen vier „Reservemütter” zur Verfügung. Außer dem Dorfleiter sind noch drei Männer als Chauffeur, Heizer und Techniker beschäftigt.

Ihr größtes Sorgenkind ist ein alter deutscher LKW, für den es keine Ersatzteile mehr zu kaufen gibt, mit dem aber die Kohle für den Winter und das tägliche Gemüse transportiert werden müssen. Die Kinder kommen aus den umliegenden Provinzen. Da die Kinderdörfer dem Ministerium für Zivile Angelegenheiten unterstehen, das in allen größeren Städten Büros unterhält, schlägt dieses Neuaufnahmen vor.

Die letzte Entscheidung liegt aber .beim Kinderdorf, das sorgfältig den Familienhintergrund prüft. Dem Kinderdorf Yantai sind ein Jugendhaus und eine Berufsschule angeschlossen, die Kurse in vier Ausbildungsrichtungen anbietet: Handel und Gewerbe, Landwirtschaft, Industriebuchhaltung und Kunsthandwerk.

Über Müttermangel kann man in Yantai nicht klagen. Die Bewerbungen laufen über das örtliche Büro für Zivile Angelegenheiten. Die Mütter haben im Durchschnitt das dreißigste Lebensjahr erreicht, sind ledig und haben keine eigenen Kinder. Höhere Schulbildung und Freude am Kind sind Voraussetzung. Nach einem Probejahr wird zunächst ein Fünf-Jahresvertrag abgeschlossen, der aber jederzeit verlängert werden kann.

1989 wählte das Kinderfilmstudio Peking das Kinderdorf Yantai für einen Spielfilm, der in Tagebuchform den Alltag schildert: die Probleme der Neuankömmlinge, die oft physische und emotionelle Schwierigkeiten durchzustehen haben und sich nicht leicht einfügen, ebenso wie die Belastungen der Mütter, die sich nicht immer von ihrer Vergangenheit lösen können.

Fanfang zum Beispiel lebt im Rahmen ihres Psychologiestudiums im Dorf; aus Zuneigung zu den Kindern, um die sie sich zu kümmern hat, verzichtet sie auf die Liebe eines Mitstudenten und entschließt sich für den Beruf der Mutter. Der Film hat in der Öffentlichkeit ein großes Echo ausgelöst: Nicht zuletzt hat er mit dem Vorurteil aufgeräumt, daß nur Frauen, die keinen Ehemann gefunden haben, im Kinderdorf als Mutter landen, um das Gesicht nicht zu verlieren.

Qiqihar ist eine der ältesten Siedlungen im Nordosten, eine Industrie-

Stadt mit über einer Million Einwohner. Bekannt geworden ist Qiqihar durch Lokomotiven, Bergwerksmaschinen und Stahl. In den letzten Jahren ist in der Nähe das erste chinesische Naturschutzgebiet errichtet worden, in dem seit 1981 seltene Kraniche und Zugvögel beobachtet werden, die von der russischen Arktik nach Südostasien fliegen.

Hunderte Bewerbungen

Das erst vorinigen Monaten eröffnete Kinderdorf liegt im Nordwesten der Stadt im „Intellektuellenviertel”, wie das Schul- und Universitätsviertel im Volksmund genannt wird. Der Standort war aus 14 Bewerbungen ausgewählt worden und soll den Waisenkindern aus der Inneren Mongolei, Heilongjiang, Jilin und Liao-ning ein neues Zuhause bieten. Bisher wurden 53 Kinder aufgenommen, ungefähr die Hälfte der geplanten Zahl. Unter diesen Kindern überwiegen die Buben zwischen 16 Monaten und zwölf Jahren.

Derzeit gibt es im Dorf acht Mütter, ihre Auswahl geschah aufgrund von Zeitungsinseraten. Aus den Hunderten von Zuschriften kamen 28 Bewerberinnen in die engere Wahl: die acht Frauen, die allen Erfordernissen entsprachen, darunter eine Buddhistin und eine Christin, erhielten nach einigen Monaten Grundausbildung einen Jahresvertrag, der bei Bewährung auf fünf Jahre verlängert wird. Die Einfamilienhäuser sind dem Flachstil des

Nordostens nachgebaut; sie müssen den Winterstürmen standhalten und Temperaturen bis zu minus 40 Grad. Neben dem nötigsten Mobiliar gibt es für jedes Haus Waschmaschine und Fernsehapparat, damit die Kinder in der Freizeit den Fernlehrkursen folgen können. Für einige Haushalte wurden von privater Seite Nähmaschinen und ein Klavier gespendet.

Jede Mutter muß mit 105 Yuan (210 Schilling) prc Monat Essen und Kleidung bestreiten. Größere Ausgaben, wie Reparaturen am Haus werden aus der dorfeigenen Kasse finanziert. Ein im Dorf ansässiger Arzt betreut Mütter und Kinder, auch jene des angeschlossenen Kindergartens, in dem zusätzlich bis zu 80 dorffremde Kinder tagsüber betreut werden können.

Im Dorf träumt man vom Bau eines Jugendhauses und einer Berufsschule, damit die Berufsausbildung der Kinder, die ja vorwiegend vom Land kommen und von Grund auf alles lernen und zum Teil nachholen müssen, einen guten Start im Leben haben und wertvolle Mitglieder der Gesellschaft werden.

Könnte Hermann Gmeiner die Frucht seiner Bemühungen in China sehen, die Begeisterung mit der sich Mütter, Dorfleiter und Verwaltungsbeamte der Büros für Zivile Verwaltung einsetzen, er würde erkennen, wie wahr seine Worte von 1985 geworden sind: „Man kann auch heute Optimist sein und einer menschlicheren Welt den Weg bereiten.”

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