Einer Wohlstandsgesellschaft, wie sie die Zeit des Francesco Bernardone aus Assisi für das Mittelalter beispielhaft abgab, mit endzeitlichem Ernst beizukommen, war nur allzu leicht zur Erfolglosigkeit verurteilt. So begann sich Franz erst sehr spät aus dem Spannungsfeld dieser Gegensätzlichkeit herauszulösen und einen Weg zu gehen, der das glühend ersehnte Martyrium in die Heiterkeit kindhafter Gottverbundenheit verwandelte. Der Passion des Herrn war mit dęr Transfixion seiner Hände und Füße am La Verna Genüge getan und sein Herz zu schwereloser Frömmigkeit, zu den Anfängen des Lebens, zur Krippe hin geöffnet Die Welt in ursprünglicher, paradiesischer Schönheit war ihm wiederhergestellt und in dieser zweiten Renaissance des Mittelalters der Mensch entdeckt, herausgelöst aus den starren Formen höfischer Etikettierung, das Brudersein der Urkirche und die Brüderlichkeit der späteren Revolutionen gleichermaßen verbindend, eröffnet er damit auch Zugänge zum Kosmos, die lange Zeit verschüttet waren.
Liturgie des Universums
Seine „Minderen Brüder” werden die schlichten Gewänder der Hirten um die Krippe tragen, von welcher der neue Mensch seinen Liebreiz auf seine Zeitgenossen ausstrahlen sollte. Sein Sonnengesang, ein aus den Umrissen der Psalmen konzipierter Welthymnus, lädt zur Liturgie des Universums ein, die Weite aller Religionen bricht in ihm auf und wird zum Urlaut jeglichen gläubigen Menschens. In diesem nicht unmißverständlichen Schritt über die Schwelle der Kirche offenbart sich sein tiefes Menschenverständnis, das um die große Welt und das Geschehen der Menschheit das einigende Band des Bruder- und Menschseins schlingt. Zum existentiellen Heiligen des Mittelalters wird Franz in seiner unabdingbaren Liebe zur Armut, und zum Heiligen unserer Tage im Verbundensein mit der Natur.
Glänzte die Jugend des Troubadours Gottes noch von den Träumen nach kriegerischen Heldentaten im Kampf der italienischen Stadtstaaten, das Militärgefängnis von Perugia zerstörte. sie. Was war gesehen? Bei seiner Heimkehr thronte die Zwingburg von Assisi zwar noch immer über der Stadt und erinnerte ihn an das augustinische Wort über die Großstaaten: sie seien Räuberhöhlen! Sein Bild vom Menschen paßte sehr wenig in diese Kategorie der Staaten, die den Menschen nicht so bald aus der Zwangsjacke ihres Dienstes entließen. Da man nach seinem Zeitgenossen, dem Geschichtstheologen Joachim von Fiore, in der Endzeit des Heiligen Geistes lebte, würden sich die beiden Gesprächs- und Kampfpartner des Mittelalters, Kirche und Imperium, bald in einem Auflösungsprozeß befinden, dessen erste Anzeichen schon am Horizont sichtbar waren. Darum wollte auch Franz nicht eigens eine neue Or densgemeinschaft gründen, wenn der Heilige Geist schon die Endzeit vorbereitete.
Als aber nach dem- Tode Kaiser Friedrichs IL, des vermeintlichen Antichristen, die Zeiten sich nicht änderten, eine schwierige Gratwanderung zu Chüiasmus und manichäischer Sekte wenig zu versprechen schien, war es soweit, die junge Ordensgründung zu adaptieren, zu organisieren und zu reformieren oder zur Revolution gegen die bestehende Ordnung aufzurufen. Man war einer Täuschung erlegen! Trotz mannigfacher Verirrungen blieb der Wille des Ordensgründers auch für die kommenden Generatięnen bindend, sich innerhalb der Kirche um eine genaue Reform der Gemeinschaft einzusetzen.
Damit geht es wieder um die Gretchenfrage des Christentums: „Wie hältst du es mit dem Staate?” Das Schema des hl. Augustinus von der „civitas Dei”, dem Gottesstaat, wie ihn die Kirche verkörperte und von der „civitas diaboli”, dem Großstaat des Mittelalters, war unbrauchbar geworden. Die Fronten und Verzahnungen der beiden Monarchien verliefen so unübersichtlich, daß sich die Minderen Brüder aus dem Gelände heraushalten wollten; ihre Bewegung von so- zial-reformistischer Virulenz erfüllt, trug zutiefst die Kennzeichen apolitischen Charakters.
Franz von Assisi forderte seine Zeit zum religiösen Umdenken auf und damit zu der von Gott aufgestellten Ordnung des „Suum cuique” - jedem Menschen das ihm Gebührende zu geben. Nach dem „Gottesstaat” Augustins würden die Kleinstaaten das Ideal für die menschliche Gesellschaft liefern, aber auf seinen Missionsreisen durch Italien erbrachten die Kleinstaaten kein besseres Bild als es in den Großstaaten herrschte.
Eigene Erfahrung mit beiden lassen daher seine Äquidistanz nur verständlich erscheinen. Mit seinem „neuen” Menschen war er nur einer der Wegbereiter zum neuen Staat, ein Johannes in der Wüste, das theologische Umdenken über den Großstaat hatte sich schon jenseits der Alpen vollzogen!
Otto von Freising
Wer legte die Fundamente dazu? Ein Babenberger, der bedeutendste Geschichtstheologe des Mittelalters, Bischof Otto von Freising, der Sohn Leopolds III., des Heiligen! Als wollte sich die Geschichte revanchieren und der Sohn an Wiedergutmachung ein- bringen, was der Vater an „machiavel- listischer” Staatsgesinnung verbrochen hatte!
Die Tendenzwende zu echter und optimistischer Haltung dem Staat des Mittelalters gegenüber fällt im Werk Ottos „De duabus civitatibus” sehr bald auf, und nach noch anfänglicher Abhängigkeit von seinem großen Vorbild geht der Sohn des Realpolitikers Leopold III. und Verwandten der Staufer seine eigenen Wege und holt die „civitas diaboli”, den Staat, herein zu der ihm von Gott zugeteilten Aufgabenlösung für die Menschen. Die erste theologische Aussage über Kirche und Staat war geschehen und in das Zwielicht der Zeit getaucht Wie alle späteren Versuche.
Nach dem Vorbild der Antike etablierten sich in der eigentlichen Renaissance die Nationalstaaten als politisch selbständige Gebilde, um die letzten Fäden religiöser Enderwartung abzureißen und nur mehr die Utopie des humanen Menschen im diesseitigen Sinn zu nähren. Aus der Verabsolutierung der Macht usurpieren die Fürsten auch das religiöse Heil, das in der berühmten Formel des „cu- ius regio, eius religio” seinen viel praktizierten Ausdruck fand. Die vielen religiösen Bruderschaften des Mittelalters retten die Vorstellung gemeinsam geübter Religion bis über die Renaissance hinaus, wie die vielen Denominationen der Reformation das baldige Kommen des Eschaton verkünden.
Mit der „sola fides” und der „sola scriptura” beginnt aber auch die Isolation des Menschen! Denn der Spruch des Fürsten wird auch zum Leitsatz des einzelnen Christen und, wenn der Glaube so verschieden ist wie es die Menschen sind, gehen die Wege bald in jene Richtung, daß Religion in ihrer Gemeinschaftsfunktion sich erst dort findet, wo diese Menschen Zusammentreffen. Die ‘ umgrenzende Region bleibt das „Ich” und die ausgeführte Religion die Egozentrik des Gläubigen!
So hat Franz von Assisi die spätere Reformation nur aufgehalten? Die Renaissance half sein neues Bild vom Menschen wohl vorbereiten, sein religiöses Reformwerk aber wollte er für seine Zeit verstanden wissen und dieses nur im Raum der Kirche, wo es vom Angebot christlicher Lebensfülle das Bestmögliche zu erfüllen gäbe. Dabei weiß er in seinem Dritten Orden für die Weltleute um die Relativität der Forderungen der Bergpredigt ebenso, wie um das Mögliche der Vollkommenheitsbestrebungen seiner „Minderen Brüder”. Die ersten Generalkapitel sind erschütternde Zeugnisse, wohin es hätte gehen können, wenn nicht jener gültige Ausgleich zwischen Eschatologie und bestehender Ordnung zum Tragen gekommen wäre, der den ewigen Kompromiß des Christentums ausmacht.’
Wir fragen nach dem Warum der ungebrochenen Faszination seines Lebens auch für uns! Was war das Unwiederholbare und Bleibende seines Lebens, und wo öffnen sich die letzten Zusammenhänge seines Mensch- und Heiligseins? Wann endlich vollzogen sich die inneren Vorgänge seines Lebens mit dem Sich-Lossagen vom antik-christlichen Vollkommenheitsideal im buchstäblichen Sinn der Hingabe des Lebens im Martyrium?
In der mittelalterlichen Kunst hat sich längst jene Wandlung vom hoheitsvollen Gott-König zur schmerz- durchfurchten Darstellung der Passion des Menschen Jesus vollzogen, und wenn Francesco Bernardone in der Kirche San Damiano vom Kreuz herab seinen Auftrag zum Aufbau der Kirche vernimmt, sollte der diametral dem Kreuz entgegenstehenden Welt seiner Zeit zu bedenken gegeben werden, daß nur über die Passion das eigentliche Leben gefunden werden kann. Es wird ihm in jener Stunde des sasso spico am Berge La Verna klar, daß seine Transfixion der Hände und Füße zu einem Martyrium der Lebenshingabe aus Liebe werden müsse! Die empfangenen Wundmale erinnern ihn täglich an das Verlassensein Jesu am Kreuz und mahnen ihn, die selbstlose Hingabe Jesu für die Menschen auch für sich Vorbild werden zu lassen.
Den gleichen Weg
So verstehen wir in dieser eschato- logischen Schau schon die Zurückstellung seiner Kleider an den Vater auf dem Stadtplatz von Assisi, das Abschiednehmen von seinem geliebten Berg La Verna und den triumphalen Einzug, auf einem Esel reitend, in seine Heimatstadt zu seinem baldigen rode im Lichte der Passion Jesu. In dieser selbstgewählten Armut entdeckt über den Brückenpfeiler Franz die Kirche von heute die immer aktu- slle Zeitlosigkeit der Bergpredigt!
Die Dogmatische Konstitution über die Kirche (1/8) des II. Vatikanum formuliert franziskanisches Gedankengut, wenn sie in drei Leitsätzen die Kirche der Armut für die Zukunft der Kirche fordert. „Wie aber Christus das Werk der Erlösung in Armut und Verfolgung vollbrachte, so ist auch die Kirche berufen, den gleichen Weg einzuschlagen, um die Heilsbotschaft den Menschen mitzuteilen… So ist die Kirche, auch wenn sie zur Erfüllung ihrer Sendung menschlicher Mittel bedarf, nicht gegründet, um irdische Herrlichkeit zu suchen, sondern um Demut und Selbstverleugnung auch durch ihr Beispiel auszubreiten. In ähnlicher Weise umgibt die Kirche alle mit ihrer Liebe, die von menschlicher Schwachheit angefochten sind, ja in den Armen und Leidenden erkennt sie das Bild dessen, der sie gegründet hat und selbst ein Armer und Leidender war. Sie müht sich, deren Not zu erleichtern, und sucht Christus in ihnen zu dienen.”
Auch für die Menschen unserer Zeit
Diese Dokumente geben den Weg zur materiellen und geistlichen Armut frei, ohne in romantischer Weise von der Kirche der Armut zu sprechen, „denn dies bringt eine doppelte Gefahr mit sich: Einmal werden Forderungen an den Lebensstil der Christen gestellt, die im Grunde nur die Wirtschaft und Lebensform vergangener Zeiten festhalten, ohne deren gottgewollte Veränderung wahrhaben zu wollen; sodann dispensiert man sich zu leicht von der Aufgabe, die Not der Armen zu mindern (wenn auch nicht aufzuheben).” (S. Verhey).
Mit der Erklärung des Generalkapitels der Franziskaner von Madrid 1973 wird jeder Ansatz zu politischer Kommunikation unterbunden und die Frage akut, wie in einer völlig anderen sozialen und wirtschaftlichen Lage das Wesentliche der Entscheidung für die Armut durchgehalten werden könnte. Eine mit Gewalt herbeigeführte Absage an den Triumphalismus führte noch lange nicht zur Kirche der Armut, wäre in ihr nicht die Erwartung des Kommens Christi lebendig, die alle Güter der Erde von selbst einer Relativierung unterwirft. Das Wort Pauls VI. an die Kapuziner vom 21. Oktober 1968 gilt somit allen Christen: „Aus eurer Lebensform ergibt sich ein wunderbares Plädoyer zugunsten des Evangeliums und seiner dauernden Wirksamkeit; es zeigt sich, daß es für alle Zeiten gilt, daß es eine geheimnisvolle Macht besitzt, auch die Menschen unserer Zeit anzuziehen.”