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Die Kirche hat eine Soziallehre

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Die Warner vor der Krise kommen heute nicht zuletzt aus den Kreisen der Naturwissenschaftler. Sozialindikatoren werden aufgestellt, Lebensqualität wird gemessen. Prognosen werden an Hand von Weltmodellen für die •ganze Menschheit aufgestellt, diskutiert, verworfen .., Das Unbehagen steigt. Das Industriesystem, auch von einem Karl Marx überschwenglich gefeiert, hat mit dem technischen Fortschritt auch die ökologische Krise produziert. Der Aufstieg des weißen Mannes und seiner Kultur im Zeichen des Fortschritts hat auch die Schatten der Krisen immer länger werden lassen. Die Arbeiterfrage des neunzehnten Jahrhunderts war nicht die einzige Frage dieses Systems. Mit dem Aufstieg der „Arbeiterklasse“ haben die Erscheinungen von Deklassierung nicht aufgehört, übrigens auch nicht dort, wo man die sogenannte klassenlose Gesellschaft errichtet hat. Die Imperien des neunzehnten Jahrhunderts im Gefolge des frühen Kolonialismus sind nicht mehr, sie haben sich verändert. Das Phänomen internationaler Machtbeziehungen ist vielfach geblieben, die Anschuldigungen von Imperialismen ebenso. Das Revolutionspotential der Französischen Revolution als soziale Umwälzung hat weitere Revolutionen nach sich gezogen und ist weiter weltweit und vielfältig am Werk. Anlässe, aus denen sich Revolutionen legitimieren möchten, sind genug vorhanden.

„Die soziale Frage ist weltweit geworden“ (Paul VI,, Populorum pro-gressio). Die Krise ist von der Arbeiterfrage zur sozialen Frage der ganzen Gesellschaft geworden und hat die Menschheit insgesamt erfaßt. Die Katholische Soziallehre ist an der Reaktion auf die Zeitnöte jeweils gewachsen. Sie hat die sozialen Nöte erfaßt, ist deren Ursachen nachgegangen und hat Antworten gesucht, aktuell und zugleich von der Wurzel des Problems her. So haben große Männer der Kirche ihre soziale Verkündigung, haben die Enzykliken der Päpste seit Leo XIII. ihre Aussagen der „Sozialen Frage“ gewidmet. Bücher von großen Vertretern des Fadhes tragen den Titel „Die soziale Frage“. In diesem Oktober sind es 70 Jahre, daß der Wiener Moraltheologe und Sozial-ethiker Franz M. Schindler „seine“ Soziale Frage herausgab. Johannes Messners „Soziale Frage“ erlebte in einem einzigen Jahr (1934) allein vier (!) Auflagen.

Heute kann man kein Buch mehr zur „Sozialen Frage“ schreiben, sagte ein deutscher christlicher Sozialethiker zum Verfasser vor einigen Jahren, als Messners Buch in 7. Auflage erschien. Meinte er damit, daß die Soziale Frage eine Zeiterscheinung war, als Arbeiterfrage also erledigt sei? Meinte er, daß die Katholische Soziallehre mit ihrem Latein am Ende sei? Gewiß, die Zeiten haben sich gewandelt, auch die anderen großen Strömungen sozialer Lehren haben sich entwickelt, diffenziert, im Falle des Liberalismus an politischem Einfluß verloren. Es mag nicht immer mehr so leicht sein, sich von bestimmten Strömlingen des demokratischen Sozialismus klar abzugrenzen. In den ideologischen Grundströmungen sollten es für den Christen aber auch heute kein Problem sein, weltanschauliche Abgrenzungen und Identität in der sozialen Kritik und Reform zu finden. Von der Zukunftsforschung, ihren Prognosen und Modellen, von der Systemanalyse und den verschiedenen empirischen sozialkritischen Ansätzen können wir gewiß viel lernen. Der Sozialethiker aber kann unter dem Einfluß des philosophischen Wertdenkens und als Christ mit Hilfe des Evangeliums die Grundwerte eines christlichen Menschen- und Gesellschaftsbildes einbringen und davon ausgehend fundierte Orientierung und Wegweisung in der sich wandelnden Gesellschaft und ihren Krisen bieten.

Es ist gar nicht so wenig, was die katholische Soziallehre den sozialen Kassandren und den sozialen Mes-siassen voraus hat: das gesicherte Wissen um die Würde jedes Menschen und die Gemeinwohlnotwendigkeit der Gesellschaft im Dienste der sozialen Wohlfahrt um des einzelnen Menschen willen. Und weil der Mensch nach dem Willen des Schöpfers Herr der Geschichte ist, nicht bloß, wie bei Marx, am Ende eines historisch-deterministischen

Prozesses, sondern kraft seines geistig-freien Wesens, dienen ihm die Einrichtungen der Gesellschaft und handelt er in sittlicher Verantwortung als soziales Wesen.

So ist der Mensch aber auch ein Krisen-Wesen, begleitet ihn die soziale Frage zu allen Zeiten und ist die Gesellschaft eine societas semper reformanda. Schon die Enzyklika Quadragesimo anno (Nr. 177) hat die klassische Formulierung von Ursachen und von Lösungen der sozialen Frage auf zwei Ebenen genannt: (Reform der) Institutionen und (Besserung der) Sitten. Niemand kann in der Katholischen Sozial-lehre die Bedeutung des institutionellen Bereiches gering achten: Klassenbildungen, Imperialismus und Kolonialismus ebenso wie rassistische und nationalistische Strömungen haben ihre Urachen in institutioneller Macht wie in menschlicher Schuld. Gerade christliche Sozialverantwortung muß daher auch den Mut haben, sich in sozialen Programmen auszusprechen und zur sozialen Tat zu schreiten. Die Idee sozialer Gerechtigkeit ist aber nicht an irgendein soziales Geheimwissen um historische Determinismen gebunden, an das Gewissen einer „Partei“, sondern an die Gemeinwohlwenbe im Bewußtsein des ganzen Volkes. Soziale Not als Not einzelner Teile des Volkes ist in Wahrheit die Not des Ganzen und ruft auf zur Bewältigung in Solidarität. Die Entwicklung des Klassenbewußtseins kann eine Stufe in der Notwehrsituation sein, die Lösung liegt in der sozialen Liebe und sozialen Gerechtigkeit für alle. Am Beispiel der Gewerkschaften oder auch unternehmerischen Interessenorganisationen läßt sich sehen, wie sich durch geteilte Verantwortung im Staat aus Klassensolidarität immer wieder Volkssolidarität entwickelnkann!

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Christliches Sozialapostolat hat immer um einen besonderen Auftrag der Kirche und ihre Verantwortung um den sittlichen Bereich auch im Sozialen gewußt, soweit sittliche

Fragen berührt sind. Das Heilsangebot der Kirche im sozialen Leben ist heute gewiß kein trium-phalistisch gedachtes Angebot, aber wir sind davon überzeugt, daß es der Welt unentbehrlich ist. In der Sorge um soziale Gerechtigkeit gibt es sicher auch Weggenossen: die Menschen guten Willens.

Wenn die Kirche und die Katholische Soziallehre aber von der Menschenwürde und den Menschen- und Freiheitsrechten ausgehen, vom Vertrauen auf die Kraft menschlicher Vernunft, in sittlicher Verantwortung um diese Würde und diese Rechte zu wissen, dann müssen wir den Mut haben, allen totalitaristi-schen Ideologien zu widerstehen und ebenso szientistischen Zeitsrömun-gen, wenn auch im Gewände der Philosophie, abzusagen. Was anderes ist es, wenn wir bereit sind, mit allen Menschen Dialog zu führen, sie am Tisch zu haben, anstatt gegeneinander zu „marschieren“, um den nächsten Schritt zu sozialer Gerechtigkeit zu finden, ohne das letzte Ziel der Wahrheit aus dem Auge zu verlieren? Dialog ist noch nicht Kollaboration und schon gar nicht „Volksfront“. Zuwenig Mut für unsere christliche Sache, für unseren Heilsauftrag, der auch die soziale Gerechtigkeit und die Menschenrechte • miteinschließt und ihnen die transzendentale Verankerung sichert, mag nicht selten die Ursache dafür sein, daß heute soziale Ideologien innerweltliches Heil als Religionsersatz verkünden. Eine theologische Flucht in Transzendenz, die Gesellschaft aber und ihre gerechte Ordnung den Anschauungen dieser „Ismen“ zu überlassen, wie es die „Theologie der Befreiung“ etwa tut, führt freilich in ein seltsames Bündnis von Atheisten und Theologen misamt ihren unaufgeklärten Anhängern.

Johannes XXIII. hat es in seiner Enzyklika Mater et Magistra groß herausgestellt: die Kirche hat eine Soziallehre! Diese hat nicht nur Vergangenheit, sie hat auch Zukunft.

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