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Die „Kleine Theresia“

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In ihrer berühmten Studie über Theresia von Liseux, dem „Verborgenen Antlitz“, schrieb Ida Friederike Görres, entweder müsse man eine „weltweite Verschwörung hartnäckigster und schamloser Lügner annehmen“, wollte man die Glaubwürdigkeit der zahllosen Berichte über wunderbare Gebetserhörungen durch Theresia in Zweifel ziehen, oder eben die Tatsache zur Kenntnis nehmen, daß „die Menge der schlechthin unerklärlichen Ereignisse bei weitem überwiegt“.

Vor zwanzig Jahren sagte mir der verstorbene Wiener Theologe Professor Friedrich Wessely, die Menschen wären so angeekelt vom Materialismus, daß sie krampfhaft nach geistigem Erleben suchten, das sie darüber hinausträgt. Da aber viele einen gebotsgebundenen Glauben scheuten, suchten sie oft im Spiritismus eine Bestätigung für die Existenz des besseren Jenseits, respektive eine Möglichkeit, mit Jenseitigem in Verbindung zu kommen. Daß bei solchen Dingen viel Irrtum, Einbildung oder auch bewußter Schwindel von falschen Medien im Spiel ist, sei klar. Ebenso klar aber sei, daß unzählige Fälle beglaubigt sind, in denen Verstorbene sich tatsächlich meldeten, dann aber kaum, um Neugierde zu befriedigen, sondern um Suchenden den Weg zu weisen oder um Wichtiges mitzuteilen. Erscheinungen der kleinen heiligen Theresia seien beispielsweise so oft bezeugt,, daß es fast schiene, als wollte Gott Zweifelnden und Suchenden unserer Zeit zeigen, daß die Zusammenarbeit zwischen Diesseits und Jenseits zur Besserwerdung der Welt durch Liebe, Realität ist.

*

Theresia, ein 1873 geborenes normannisches Uhrmachertöchterchen, erzwang in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts von ihren kirchlichen Vorgesetzten die Erlaubnis, mit fünfzehn Jahren Kar-melitin zu werden. Augenzeugen ihrer Einkleidung, die ich kannte, berichteten, sie sei so wunderschön gewesen — groß, schlank, mit hüftlangen goldblonden Locken und grünen Katzenaugen —, daß die Leute in Lisieux einander zu den Fenstern riefen, wenn die „kleine Martin“ vorbeiging.

Theresia, die eine große Heilige werden wollte, hatte, nach eigener Aussage, Gott seit ihrem dritten Lebensjahr kein Opfer verweigert. Sie war überzeugt, daß man zur Heiligkeit keine großen Taten vollbringen müsse, sondern daß es genüge, die kleinen Dinge des Alltags in Liebe zu erfüllen und zu ertragen. Praktische Nächstenliebe stellt sie weit über selbsterdachte Bußübungen. Diese Ansicht trug ihr im eigenen Kloster manche Feindschaft von Mitschwestern ein, die zur weitverbreiteten Spezies Christen gehörten, die Anrecht auf einen himmlischen Logenplatz zu haben meinen, weil sie sich selbst Opfer auferlegen, zu denen solche der Nächstenliebe allerdings kaum gehören. Theresia aber meinte, Nächstenliebe sei das Wichtigste, wichtiger als Geißelung mit Brennessel und Bußgürtel.

Sie war überzeugt, daß Heiligkeit und Liebe im Dienst Gottes dasselbe sind.

Sie hatte ein Programm: Hier auf Erden alles für Gott, mit ihm, aus Liebe zu ihm zu tun, um im Jenseits zu lieben, geliebt zu werden und — mit Erlaubnis Gottes — auf die Erde zurückkommen zu dürfen, um den Menschen zu helfen, Gott besser zu erkennen und mehr zu lieben. Denn sie war überzeugt, wenn sie jetzt Gott alles zuliebe tat, so werde er ihr nach dem Tod auch alles zuliebe tun und das hieße, bis zum Jüngsten Tag seine Mitarbeiterin am Wohl der Menschheit sein dürfen.

Theresia starb 1897, vierundzwan-zigj ährig, an Tuberkulose. Liest man ihre Heiligsprechungsakte, blättert man in Lisieux in den vielen tausend Briefen, die aus allen Erdteilen in den Karmel flattern, spricht man mit Augenzeugen ihres Wirkens nach dem Tode, so muß man, wie Ida Görres sagt, entweder annehmen, daß alle Berichte von Lügnern, respektive Irren stammen, oder aber, daß man vor einem der tollsten Phänomene unserer Zeit steht.

Denn man liest — entweder unter Eid ausgesagt, stilistisch ausgefeilt, wie im Heiligsprechungsprozeß, oder rührend unbeholfen, aus tiefstem Herzen einfacher Menschen kommend, Berichte unglaublichster Ereignisse, wie wunderbarer Heilungen, Hilfeleistungen aller Art, unerklärlicher Geldvermehrungen, Ret-

Theresia von Lisieux tung aus Katastrophen, und natürlich von zahllosen Bekehrungen Außenstehender, beziehungsweise Andersgläubiger, die niemals früher den Namen Theresias auch nur hörten.

Eines Tages aber, berichteten sie, stand vor ihnen eine bildschöne, junge Karmelitin, stellte sich als Theresia vom Kinde Jesus vor, und bat sie, dies und jenes zu erledigen. Und die Betreffenden folgten!

Ich sprach mit namhaften Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft verschiedener Länder, denen ähnliches mit Theresia passierte; ich sprach mit Bauern, Arbeitern, Taxichauffeuren, mit Bardamen und Verkäuferinnen — jeder hatte köstliche Geschichten zu erzählen. Die Intellektuellen aus ungläubigem Milieu unter ihnen, zerfleischen sich meist selbst im Bemühen, natürliche Erklärungen für Außernatürliches zu finden. Sie sprachen von Präkognition, vom gemeinsamen Urwissen, das ihr Unbewußtes anzapfe ... nur die Erklärung fiel ihnen schwer, an ein effektives Hereinreichen aus einem anderen Leben zu glauben.

Am Rande sei vermerkt, daß ein von „Readers Digest“ propagiertes, in Deutschland erschienenes „Gesundheitsbuch“, als Kennzeichen der Schizophrenie vermerkt, solche Kranke glauben oft, mit Heiligen in Verbindung zu stehen, von denen sie Aufträge erhielten.

Übrigens regte sich der Philosoph Bergson schon darüber auf, daß viele Psychiater und Laien Mystik und Geisteskrankheit gleichsetzten. Bergson meinte, es gebe genügend klinische Kennzeichen, die einen Geisteskranken vom Gesunden unterschieden.

Nun, ich habe an den Menschen, die mir von ihren Erfahrungen mit Theresia berichteten, die alle mitten im Leben standen, keinerlei Zeichen von Schizophrenie bemerkt.

*

An der Wiener Technischen Hochschule werden seit Jahren Vorträge über Parapsychologie gehalten.

Kürzlich wurde dabei betont, die Wissenschaftler müßten sich vor der „Paranoia“ hüten, bei allem, was nicht in das jeweils eigene Weltbild passe, von Lügenverschwörung oder Verdummungskamapne zu reden. Es sei unwissenschaftlich, Dinge für unmöglich zu erklären, nur weil sie, nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaften, unwahrscheinlich scheinen. Einer der Vortragenden, Doktor Urban, meinte, noch vor wenigen Jahren seien Parapsychologen von anderen Wissenschaftlern nicht ernstgenommen worden, da sie selbst sich ernsthaft auch mit so verachteten Dingen wie mit Okkultismus, Spiritismus, Hellsehen oder Reinkarnation befaßten, alles Gebiete, die Rationalisten ins Gebiet des ärgsten Aberglaubens verwiesen. Heute aber habe sich die Ansicht grundlegend geändert, wozu die zahlreichen Forschungsergebnisse in den Ostblockstaaten viel beitrugen.

Wie sagte doch Uexküll? „Wissenschaft ist die Summe der heute noch nicht als solcher erkannten Irrtümer ...“

Der verstorbene französische Theologe, Professor an der römischen Lateranuniversität, Prälat Combes, von Papst Johannes wegen seiner zahlreichen Publikationen über die kleine Theresia scherzhaft „Doktor Theresianissimus“ genannt, geriet einmal heftig mit einem atheistischen Professor der Sorbonne in Streit, der sich kräftig über den „Heiligenaberglauben“ lustigmachte.

Da Theresia, wie auch Johanna von Orleans, Schutzpatronin Frankreichs ist, kannte der Betreffende zumindest ihren Namen. Combes frug ihn daher, wie er sich, rein soziologisch, erkläre, daß eine Klosterfrau, die nur eine Handvoll Menschen zu Lebzeiten kannte, die außer einer von vielen als schwülstig empfundenen Autobiographie und einigen Briefen nichts Schriftliches hinterließ, die so unscheinbar lebte, daß eine Mitschwester über sie sagte, „man könne über sie wirklich nichts anderes berichten, als daß sie im Karmel lebte und starb“, heute weltweit berühmt sei?

Nur wenige Jahre nach Theresias Tod war ihre „Geschichte einer Seele“, die Autobiographie, in alle Weltsprachen übersetzt und in Millionenauflage verbreitet. Rom wurde mit Bittbriefen überschwemmt, Theresia heiligzusprechen. Mehrere tausend Kirchen wurden in allen Erdteilen ihr zu Ehren errichtet. Die meisten davon, wie auch die riesige Basilika in Lisieux, aus dankbaren Spenden von Menschen, denen die Heilige half. Ich sah in Lisieux Menschen aller Rassen, Klassen, Kontinente, ja der unterschiedlichsten Konfessionen beten. Theresias damals noch im Karmel lebende Schwestern Pauline und Celine, mit denen ich befreundet war, erzählten mir, sie habe gewußt, daß sie durch ihre Lebensgeschichte weltweit bekannt und von der ganzen Welt geliebt werden würde. Und das stimmt.

Hunderttausende pilgern alljährlich nach Lisieux, um dort Glaube, Liebe und Hoffnung für das weitere Leben zu tanken. Und alle diese Massen kommen nur aus Aberglauben?!

Theresias Schwestern standen selbst fassungslos vor dem Phänomen, denn interessanterweise hatten sie selbst niemals irgendein nach-todliches Erlebnis mit ihr. Sie gaben mir gegenüber zu, daß sie das Nesthäkchen nicht immer ernstnahmen und es wenige Monate vor dessen Tod leicht ironisch frugen, wie es sich sein nachtodliches Wirken denn eigentlich vorstelle?

„Ich werde selbst zurückkommen!“ antwortete Theresia. Und sie tut es. Theresias Gottvertrauen war wunderbar. Ihr Wahlspruch war, wie mir Pauline erzählte: „II faut les laisser faire lä-haut, ils savent ce qu'ils font!“ Was sinngemäß heißt, man solle „die da droben nur machen lassen“, weil sie am besten wissen, warum etwas so und nicht anders in unserem Leben geschieht.

Wie alle Heiligen, war auch die kleine Theresia eine ganz große Liebende. Wer aber liebt und sich geliebt weiß, der spricht mit dem geliebten Du einfach und unkompliziert. So ging Theresia auch mit Gott um. Sie sagte beispielsweise ihren Schwestern, sie wisse genau, daß viele sie nach ihrem Tod um „Protektion bei Gott“ bitten würden. Dann aber werde sie zu Jesus laufen, ihm in die Augen sehen, aber wenn sie darin lese, daß Erhörung für den Bittenden schlecht sei, diese Bitte eben nicht erfüllen können. Auch und gerade die Schwestern sollten sich darum nicht wundern, wenn sie noch viel zu leiden haben würden!

Besonders uns Heutigen kommt diese Glaubensform vermenschlichend, ja kindisch vor. Zu Unrecht: nimmt man sich nämlich die Mühe, hinter die zeitbedingte Wortkulisse zu sehen, dann erkennt man, daß es auch hier nur um tiefstes Gottvertrauen geht!

Gott aber erhörte Theresia unzählige Male. Darüber hinaus wurden ihr Humor und ihr gesunder Menschenverstand, die aus jeder Zeile und jedem überlieferten Ausspruch sprechen, vielen zur echten Lebenshilfe.

Sie haßte beispielsweise Tratsch und Kritik. Sie meinte, sie käme sich selbst wie die Frau eines Bildhauers vor, die nichts von Kunst verstehe. Da sie aber ihren Mann liebe, untersage sie es sich, an seinen Kunstwerken herumzukritisieren. Sie werde ihm doch nicht ständig vorwerfen, daß, ihrem Geschmack nach, die eine Statue zu große Füße oder der Kopf eine zu lange Nase habe, sondern werde sich an den Dingen freuen, so wie ihr Mann sie schuf. Genauso aber freue sie sich an den Mitmenschen als Geschöpfe des göttlichen Schöpfers. Gott wisse schon, warum die einzelnen so und nicht anders seien, und uns habe das eben zu genügen, sagte sie ihren Novizinnen.

Köstlich sind die Dinge, die ich indirekt mit Theresia als „Finanzmini-ster“ miterlebte. So beispielsweise wußte Msgr. Germain, der Erbauer der Basilika von Lisieux, von einem Monatsersten zum anderen nicht, wovon er die Arbeiter bezahlen werde. Er hatte Theresia zum Bauherrn ernannt. Auch wenn der Architekt am Zwanzigsten verzweifelt vor der leeren Kasse stand — am Auszahlungstag war stets genug darin.

Auch Pater Brottier, der in Paris das große Waisenhaus von Auteuil baute, hatte Theresia zum Finanzminister ernannt. Er hatte ihr die

Die Verfasserin des hier veröffentlichten Artikels, Frau Elisabeth Marnegg-Wallerstain, ist die Tochter des österreichischen Gesandten und bevollmächtigten Ministers Dr. Bruno Marek, der Österreich von 1919 bis 1938 und kurze Zeit im Jahre 1945 in Prag vertrat. Neben Baron Frankenstein in London war er Österreichs bedeutendster Diplomat der Zwischenkriegszeit. Er kannte die Tschechoslowakei mit allen ihren Problemen in und auswendig, wozu auch eine perfekte Beherrschung der tschechischen Sprache gehörte. Er war deshalb nicht nur bei den leitenden Staatsmännern wie Masaryk und Benes persona gratissima, sondern auch bei allen Vertretern der einzelnen Nationen. Dr. Marek war ein glühender österreichischer Patriot. So ist es begreiflich, daß die Regierung Seyss-Inquart ihn sofort aus Prag abberief. Die Jahre des Dritten Reiches verbrachte er mit einer stark verkürzten Pension in Prag. Sofort nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches etablierte er in Prag eine österreichische Vertretung, die sofort ein Sammelpunkt vieler Flüchtlinge wurde. Ende Mai 1945 wurde er aus bisher unbekannten Gründen von der russischen Besatzungsmacht gefangengenommen und unbekannten Aufenthaltes verbracht. Er kehrte aus der Gefangenschaft nie mehr zurück. Durch ihre Mutter, eine geborene Broda, ist die Verfasserin eine direkte Cousine des heutigen österreichischen Bundesministers für Justiz.

Baufinanzierung anvertraut, die an sich aussichtslos schien. Täglich bekam er aber die gerade benötigte Summe, oft auf ihm rätselhafte Weise.

Abschließend eine Episode, die mir Pauline erzählte: Vor der Landung der Alliierten in der Normandie wurde Lisieux oft bombardiert. Die

Karmelitinnen mußten ihr Kloster verlassen und in der Krypta der auf einem Hügel gelegenen Basilika Zuflucht suchen. Aber Pauline hielt es darin nicht aus. Sie stand am Vorplatz, schaute auf die brennende Stadt und erkannte, daß Häuser gegenüber dem Karmel Feuer fingen. Ein starker Wind blies die Funken geradewegs auf das Karmeldach ...

„Therese — rette deinen Karmel“ — schrie Pauline entsetzt. In derselben Sekunde glaubte sie eine Hand zu sehen, die aus der Wolkendecke fuhr und eine gebieterische Bewegung machte. Der Wind drehte sich folgsam... Bis Kriegsende blieb der Karmel, bis auf ein paar durch Feuerhitze geborstene Fensterscheiben, unversehrt.

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