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Die Kleinfamilie braucht Ergänzung schon vor der Schule

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Kindergarten ist mehr als nur Spielen. Eine Reportage über einen Pfarrkindergarten im Jahr 1977 und all die Bildungsinhalte, die dort die Grundlagen für den späteren Weg legen.

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Kindergarten ist mehr als nur Spielen. Eine Reportage über einen Pfarrkindergarten im Jahr 1977 und all die Bildungsinhalte, die dort die Grundlagen für den späteren Weg legen.

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Um sieben Uhr früh wird es lebendig im Pfarrkindergarten, und bis acht Uhr haben alle Mütter und Väter ihre Kinder der Obhut erfahrener Kindergärtnerinnen anvertraut. Dazu werden sie in Altersgruppen von durchschnittlich 25 aufgeteilt, in der Untergruppe die Drei- bis Vierjährigen; die Vier- bis Fünfjährigen, die weit in der Überzahl sind, in die Mittelgruppe; und von fünf Jahren aufwärts in die Obergruppe mit Schul- vorbereitung „in spielerischer Form“, die Vorschulgruppen.

In Kleingruppen von fünf bis zehn spielen die Kinder bis etwa neun Uhr frei. Sie basteln, singen, entspannen sich. Das Gabelfrühstück um zehn Uhr gibt es für die Kleinen bis zu vier Jahren gemeinsam, die „Großen“ bedienen sich freiwillig bei der Buffetjause. Unglaublich,wie rasch die Kinder die Alltagsroutine übernehmen, wie deutlich sich ihr Bedürfnis hach Regelmäßigkeit bemerkbar macht. Nach dem Gabelfrühstück beginnt die erste konzentrierte „pädagogische Einheit“.

Diese halbe Stunde wird, der jeweiligen Altersstufe angepaßt, unterteilt, um den Kindern, die sich noch nicht über einen längeren Zeitraum auf ein Gebiet konzentrieren können, das Auffassen zu erleichtern. Nach einer längeren Erholungspause mit „Freispiel“, in der sich viele Kinder erfahrungsgemäß gerne ein bißchen zurückziehen (Ich-Findung!), kommt eine etwas kürzere zweite pädagogische Einheit, die, zwar ähnlich konzentriert wie die erste, den Schwerpunkt mehr auf Bewegung und Rhythmik legt.

Was geschieht in diesen pädagogischen Einheiten?

  • Religionserziehung als integrierter Bestandteil der kirchlichen Kindergärten, die vor allem, der stark an den Eltern orientierten kindlichen Glau- bensfahigkeit angepaßt, das Vertrauen in Gott stärkt.
  • Sprachliche Erziehung in Form von Geschichtenerzählen, Gedichten, Bilderbüchern, Gesprächen und Kasperltheater.
  • Eine große Rolle spielt die Bewegungserziehung: Turnen, Wett- und Fangspiele.
  • Im Mittelpunkt der musikalischen Bildung stehen Singen, Rhythmik und Kreisspiele.
  • Im Rollenspiel lernt das Kind die Realität kennen, lernt Konflikte zu lösen. Verschiedenheiten zu erkennen.
  • Das Gestalten mit Bau- und Konstruktionsmaterial (Lego, Matador, Puzzle, Mosaik) fördert seine Kreativität, seine spezifischen Begabungen, ebenso das Zeichen, Malen, Modellieren und Basteln an Hand einer Reihe von Techniken.

Eine Selbstverständlichkeit, daß die Art und Weise der jeweiligen Altersstufe entspricht. In der Obergruppe lernen die Kinder zusätzlich die Grundzüge des mathematischen Denkens (etwa mit Zahlendomino) und Verkehrserziehung, entweder im Freien oder durch Beispiele in Bilderbüchern, Geschichten und gemeinsamen Spielen.

Eine Ergänzung

Bei schönem Wetter im Winter gehen die größeren Kinder Eisläufen, und solange es die Temperatur erlaubt, werden die umhegenden Parks oder, wenn vorhanden, der Pfarrgarten für Spiele und Turnen im Freien ausgenützt. Fast alle Pfarren haben große Räumlichkeiten zur Verfügung, die den Kindern echte Tummöglich- keiten, Auslauf und freie Bewegung ermöglichen. Zum gemeinsamen Mittagessen um zwölf Uhr ist nur noch etwa die Hälfte der Kinder anwesend, die anderen wurden von ihren nichtberufstätigen Müttern abgeholt. Es ist eine interessante Erfahrung, die die Pfarre St. Josef ob der Laimgrube gemacht hat: von den Müttern, die ihre Kinder in den Pfarrkindergarten bringen, ist nur etwa ein Drittel berufstätig. Immer stärker wird der Kindergarten zur wertvollen Ergänzung der Kleinfamilie, die dem Kind nur eine einseitige und unvollständige soziale Umwelt vermitteln kann. Immer mehr aber verliert der Kindergarten auch die Funktion einer bloßen Aufbewahrungsstelle für Kinder berufstätiger Mütter. Auch Hausfrauen wollen Zeit für sich haben - leider noch viel zu wenige für Weiterbildung -, wollen ihren Kindern das Zusammensein, mit Gleichaltrigen, den notwendigen sozialen Lernprozeß in einer Gruppe ermöglichen.

Um 15 Uhr gibt es noch eine Jause, dann werden die Kinder nach und nach abgeholt. Während dieser Zeit wird gemeinsam gespielt, da macht es nichts aus, wenn die Kinder nacheinander Weggehen. Um 17.30 Uhr tritt Ruhe ein, die Kindergärtnerinnen haben ein befriedigendes, aber anstrengendes Tagwerk hinter sich. Die mehr als 11.000 Kinder in Krippen, Kindergärten und Horten im Bereich der Erzdiözese Wien werden von 364 Kindergärtnerinnen und Horterzieherinnen mit Befähigungsprüfung, von 31 Erzieherinnen mit einer anderen pädagogischen Ausbildung betreut. 21 Kräfte ohne pädagogische Ausbildung haben sich in den vielen Jahren ihrer Tätigkeit bestens bewährt und stehen nur wenige Jahre vor der Pensionierung. Zwei Logopädinnen testen und behandeln die Kinder, wenn das nötig ist. Im Herbst 1977 wird eine Psychologin für die Kindergärten zur Verfügung stehen. Die Ausbildung einer Kindergärtnerin oder- Horterzieherin ist keineswegs mit der Aufnahme der Tätigkeit abgeschlossen. Die Erzdiözese Wien ermöglicht ihnen laufend kostenlose Fortbildungskurse und Seminare, die auch sehr gut besucht sind.

Eine Entfaltung

Die Methode, die in kirchlichen Kindergärten praktiziert wird, orientiert sich einerseits an den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Kleinkinderpsychologie und -Pädagogik und anderseits an der Erfahrung der praktischen Kindergartenarbeit. Die Bildungs- und Erziehungsinhalte, die der Methode zugrunde liegen, umfassen die Bereiche

  • Emotionale Erziehung: Förderung der Liebes- und Bindungsfähigkeit, der Gefühlsansprechbarkeit, der Erlebnisfähigkeit, Beginn einer Antriebs- und Gefühlssteuerung, Abbau von Frustration.
  • Sozialverhalten: Entfaltung der Kontaktfähigkeit, Richtiges Verhältnis zu Autoritäten, Fähigkeit zur Zusammenarbeit in der Gruppe, Mitverantwortung für die Gruppe, Einüben in demokratisches Verhalten, Interesse und Verständnis für die Verschiedenartigkeit der Menschen.
  • Sexualerziehung, ein-Thema, das in der allgemeinen Ausbildung zur Kindergärtnerin immer noch vernachlässigt wird: Aufbau einer natürlichen Einstellung zur Geschlechtlichkeit, Hineinwachsen in die eigene Geschlechtsrolle, Bescheidwissen über das Werden menschlichen Lebens,Weckung und Förderung des Verständnisses für partnerschaftliches Zusammenleben in der Familie.
  • Wertverhalten: Wecken des Verständnisses für Grundrechte des Menschen, Entfaltung eines moralischen Wertbewußtseins, Einüben in sittliche Grundhaltungen.
  • Religiös-christliche Erziehung: Religiöse Aspekte der Wirklichkeit eröffnen, für die Frage nach Gott interessieren, Zuversicht vermitteln, Jesus und seine Botschaft kennenlemen, in die Gemeinschaft der Kirche hineinwachsen.
  • Kreativität: Bildnerisches Gestalten, Singen und Musizieren, Tanzen, Darstellendes Spiel, Ästhetische Bildung.
  • Denkförderung: Intensivierung der Beobachtungsfähigkeit, Förderung der Merkfähigkeit, Problemverhalten.
  • Sprachbildung: Förderung der Sprechfahigkeit, Spracherlebnis, Anheben des Sprachniveaus, des Sprachverständnisses, der Sprechtechnik.
  • Bewegungserziehung: Erleben des eigenen Körpers, Beherrschung fundamentaler Bewegungsformen. Schulung des Gleichgewichtssinns, der Motorik, des Rhythmusgefühls.
  • Lern- und Leistungsverhalten: Weckung der Lern- und Leistungsbereitschaft, Ausbildung von positiven Arbeitshaltungen.
  • Umweltbewältigung: Orientierung in der Umwelt, Grundlegung des richtigen Verhältnisses zur Natur, Sachgerechter Umgang mit den Dingen, Konfrontation mit dem täglichen Leben, Körper- und Gesundheitspflege, Ansätze zu einem kritisch auswählenden Konsum verhalten.

Diese besonders auf das Menschliche hin ausgerichtete Methode der kirchlichen Kindergärten ermöglicht oft Ungewöhnliches: Chinesische, indische oder jugoslawische Kinder werden ebenso vorurteilsfrei in die Kindergruppen integriert wie behinderte Kinder, Kinder ohne Füße und Hände oder verhaltensgestörte Kinder. Auf Anderssein reagieren Kinder - wenn sie nicht von den Eltern negativ beeinflußt werden - niemals mit Vorurteilen, eher stört sie anderes Verhalten.

Noch eine interessante Erfahrung konnte Felicitas Swoboda, die Leiterin des Kindergartens ob der Laimgrube, die in ihrem Idealismus von Pfarrer Viktor Kollars kräftige Unterstützung findet, machen: die Dreijährigen, die in den Kindergarten kommen, sind bereits typische Mädchen und Buben, dem traditionellen Rollenklischee entsprechend. Sieht so die Erziehung der Eltern zu einer späteren Partnerschaft aus? Der Kontakt mit den Eltern spielt eine große Rolle in den kirchlichen Kindergärten. Es finden regelmäßig Elternabende zu bestimmten Themen statt, und bei Schwierigkeiten stehen die Kindergärtnerinnen jederzeit für eine Aussprache zur Verfügung. Im Alter zwischen drei und sechs Jahren sind Kinder noch formbar, kann Fehlverhalten noch ohne größere Probleme positiv beeinflußt werden.

Was kostet ein Kindergartenplatz? Der Durchschnittsbeitrag, den Eltern zu leisten haben, liegt bei 600 Schilling für den Halbtag, und bei 780 Schilling für den ganzen Tag, „alles inklusive“. Für Familien, die diese Beiträge nicht leisten können, sind auf Antrag beim Kindergartenerhalter Ermäßigungen oder auch Freiplätze möglich. Der Beruf der Kindergärtnerin und Horterzieherin ist, wie auch immer stärker der einer Volksschullehrerin, reine Frauensache. Haben Manner wirklich kein Bedürfnis, ein Kleinkind zu erziehen, seine Erlebnisse mitzuformen, seine Entwicklung mitzuerleben? Der Engpaß beim Personal für Kindergärten und Horte ist endgültig überwunden. Heuer gibt es erstmals mehr Anmeldungen gerade absolvierter Erzieherinnen, als untergebracht werden können.

Ein Autobus

Jede Pfarre hat auch einen Hort, der täglich ab zehn Uhr, an schulfreien Tagen schon ab acht Uhr früh geöffnet ist. In einigen von ihnen holen die Erzieherinnen die Kinder der ersten Klasse bis Weihnachten selbst von der Schule ab, Um sie an den Schulweg zu gewöhnen und zur Selbständigkeit zu erziehen. Für Eltern mit besonderen Zeitproblemen stehen einige kirchliche Heime in Österreich zur Verfügung, wo die Kinder die ganze Woche bleiben und zum Wochenende nach Hause gehen. Für geistig behinderte Kinder wurden Kinderdörfer eingerichtet, es gibt auch Kindergärten für Körperbehinderte. Sehr bewährt hat sich in der Diözese Linz der mobile Kindergarten mit einem Bus, der mit allem Kindergarteninventar ausgestattet ist, mit dem eine Kindergärtnerin zweimal in der Woche in entlegene Dörfer zu Landkindern fahrt.

Eine Kostenfrage

Ein Detail am Rande: der Bedarf an Säuglingskrippen (sechs Wochen bis ein Jahr) sinkt - auch bei der Gemeinde Wien -, ein Zeichen, daß Frauen in steigendem Maß das Karenzjahr in Anspruch nehmen. In ganz Österreich gibt es 40 Säuglingskrippen, davon sind 3 katholische. Für Kleinkinder (ein bis drei Jahre) sind insgesamt genügend Plätze vorhanden, allerdings ist die Bezirksverteilung sehr unterschiedlich. In überalterten Bezirken sind Krippen vielfach unterbesetzt, in anderen gibt es zu wenig Plätze. Unter den 251 Kleinkindergruppen in Österreich sind elf katholische.

Im Durchschnitt wird ein Viertel aller Kindergärtnen in Österreich von der Kirche geführt (1211 von 5336 Kindergartengruppen). Den stärksten Anteil an der Gesamtzahl der Kindergärten hat die katholische Kirche mit 40 Prozent in Oberösterreich, schwächer ist er in Tirol und Vorarlberg (15 und 12 Prozent). Besonders schwierig ist die Situation in Niederösterreich, wo es neben 1008 öffentlichen Kindergartengruppen nur 60 katholische gibt. Das Land stellt zwar alle erforderlichen Mittel für öffentliche Kindergärten zur Verfügung, die Subventionen für die kirchlichen Kindergärten liegen aber unter dem Anfangsgehalt einer Kindergärtnerin.

In Wien dagegen funktioniert die Zusammenarbeit mit der Gemeinde gut, betont Frau Margarethe Strausky vom Kindergarten und Hortreferat der Caritas. Hier werden die kirchlichen Kindergärten im selben Ausmaß subventioniert wie alle privaten, also auch die der Kinderfreunde; die Beiträge sind knapp kostendeckend. Da sich die Gemeinde Wien für ihre Kindergartenplätze einen nach dem Einkommen gestaffelten Beitrag von den Eltern einhebt, ist anzunehmen, daß die Lage der Gemeinde-Kindergärten der der privaten ähnlich ist. Allerdings ist die Gemeinde in Wien auf die Aktivitäten der privaten, und somit auch der kirchlichen, Kindergärten angewiesen. Von den 1186 Kindergartengruppen sind nur 506 öffentliche, aber 680 private, davon 286 katholische. Allein könnte also die Gemeinde Wien den Bedarf an Kindergartenplätzen, der gleichfalls nach Bezirken unterschiedlich ist, gar nicht bewältigen.

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