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Die Kraft der Dinge

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Von einem Augenblick zum nächsten war die Fähigkeit plötzlich da, und Anna konnte die Luft sehen, in der sie lebte. Das Gefühl, das diese neue Begabung in ihr hervorrief, hatte sie schließlich in eine sehr eigenartige Stimmung versetzt, denn wo vor kurzem noch nichts war, erkannte sie nun lebendigstes Dasein. Feinste Teüchen schwebten ganz still und gelassen, irgendeinem unsichtbaren Impuls folgend rasten andere hier und dort umher. Aber wie immer sich die Teüchen auch benahmen, ihre Aktionen, besser gesagt, ihre Reaktionen, dachte Anna, existierten, waren Wirklichkeit, waren zu sehen. Zur selben Zeit aber wußte sie, daß das alles für sie völlig unbedeutend war, dem Ganzen gegenüber konnte sie gleichgültig bleiben, da sie sofort erfaßt hatte, daß all diese Bewegung um sie den Lauf der Welt offenbar in keiner Weise beeinflusse.

Zum Zeitpunkt dieses Geschehens war Anna am Weg nach Hause gewesen. Zum Ende überlegte sie noch, daß diese Luft wohl also eine ganz eigene Welt sei, Milliarden Teüchen, aber jedes einzelne und aUe zusammen ließen sie mitsamt all ihren komplizierten Aktivitäten gleichgültig. Und mein Tun? dachte sie plötzlich. Wie mag es damit sein? Aber dann stand sie schon vor der Tür zum Haus, in dem ihre Wohnung lag. Sie öffnete, stieg langsam die Stufen bis zum ersten Stockwerk hinauf, ging in die Wohnung, ging ins Wohnzimmer und schaltete dort das Licht an. Die Stehlampe mit dem Schirm aus der hübschen gelbrosa Seide verbreitete angenehm gedämpfte Helligkeit. Sie holte ein Glas aus dem Schrank, danach die Flasche mit dem Rotwein. Aber halt. Etwas fehlt? Gleich danach wußte sie, was das war. Der Tanz der Luftteilchen in — wo denn? - ja, natürlich im Raum. Der war da im Zimmer überhaupt nicht zu sehen.

Sie setzte sich trotzdem, blieb aber nicht lange, stand eine Minute später wieder auf, nahm den Mantel und ging aus der Wohnung. Draußen auf der Straße war sie im nächsten Moment schon glücklich. Alles war wieder da, die Teüchen der Luft in ihrem ununterbrochenen Tanz, zumeist still dahinschwebend, manchmal allerdings heftig bewegt. Und die Summe dieser kleinen Tänzer nennen wir Gas? dachte sie. Das ist ein eigenartiges Wort: Gas. Danach fühlte sie die Kühle des Abends und wie angenehm das für sie war. Vor dem Heimgehen und dem plötzlichen Erwerb ihrer neuen Fähigkeit war sie bei Franz gewesen, und dieser Mensch hatte geheizt gehabt. Wahrscheinlich, so überlegte sie jetzt, als sie zurückdachte, wollte er mit mir ins Bett, ja, sicherlich sogar, denn um diese Tageszeit hat der ja nie etwas anderes im Kopf. Und sage ich ihm, daß es mehr gibt im Leben, versteht er mich nicht, denn für ihn gibt es ja nur die Welt, die er sieht.

Aber halt, überlegte sie anschließend. Wenn ich ihm erzähle, was ich seit neuestem kann? Daß ich etwas sehe, das normalerweise nicht zu erfassen ist? Sofort war ihr klar, daß er das nicht verstehen würde, bloß dumm lachen und dann wieder ins Bett wollen, das wäre aUes. Ich weiß ja aus letzter Zeit zur Genüge, wie er ist, und eigentlich ist er mir bereits ebenso gleichgültig wie diese Tausenden Teüchen um mich, jedes einzelne und alle zusammen wohl schön, aber gleichgültig.

Inzwischen hatte jemand in einem Haus an der anderen Straßenseite eine brennende Kerze ins Fenster gestellt. Anna ging nun langsamer als vorhin. Eigenartig ist das, dachte sie, wir haben weder Weihnacht noch Ostern, und sonst tut man doch soetwas nicht. War es dann doch der Tanz der Luftpünktchen um sie, der sie empfindsamer gemacht hatte? Sie überlegte mit einem Mal, daß es mit den Menschen wohl dahingehe wie mit den Kerzen, es gab eine Zeit, da waren sie noch nicht da, dann gibt es sie, aber sie brennen ab und verschwinden. Nichts, das zählen würde, bleibt. Oder doch? Ist der Tanz der Teüchen der Luft nicht ganz anders in der Umgebung dieser Kerze als sonstwo? Natürlich. Und schöner ist er, Figuren werden gebüdet, und das alles setzt sich fort. Im nächsten Moment war ihr aber klar, daß man das auch bloß als Unordnung sehen könne,' das sanfte Schweben der Teilchen ist unterbrochen, sie schwirren umher, werden aber bald wieder langsamer, und wozu also das alles? Das Licht und die Wärme hätten demnach bloß ein wenig Unordnung in einen ohnehin sehr unordentlichen Kosmos gebracht, und an Stelle des Kerzenwachses gibt es irgendwelche andere, ebenfalls gleichgültige Verbindungen; wozu letztlich?

Wenig später ging sie weiter und kam an einem geöffneten Fenster vorbei, aus dem sonderbare Geräusche herausdrangen. Sie hielt an. Werden hier Instrumente gestimmt? Sie ging auf die andere Straßenseite und konnte jetzt, aus der Entfernung, in den Raum im Erdgeschoß blik-ken. Tatsächlich saßen dort vier Leute und waren bereit, zu spielen, zwei Geigen, Viola und das Cello. Im nächsten Augenblick drangen schon die ersten Takte eines Quartetts zu ihr: sanfte, aber gleichzeitig vorwärtsdrängende Musik. Anna lauschte eine Weüe. Dann ging sie in Gedanken versunken weiter.

Sonderbar ist das schon. Eben jetzt hat mich der Tanz der Luft-teüchen keineswegs gleichgültig gelassen. Schön war dieses Bewegen, dieses Schweben und symmetrische Laufen. Sie ging weiter und kam zum Rathaus der Stadt mit der Mariensäule davor. Ein wenig Musik und alles ist anders? Eigenartig. Und sie auf der Säule? Jungfrau und Mutter? Keines ihrer Attribute trifft zu bei mir.

Aber wenn ich das alles so recht überlege. - Da die Musik die Teüchen der Luft bedeutend machen kann, schön und edel in ihrem Schweben, dann irgend etwas anderes als die Musik vermag vielleicht auch mich verwandeln.

Aber weiß ich es nicht ohnehin? Ja, auch ich bin genau so wenig unbedeutend und gering wie jene Maria dort oben. Und selbst Franz ist es nicht. Die Luft vor dem Brunnen unter der Säule tanzt jetzt, ja, ich höre das Rauschen und verstehe plötzlich und habe zu begreifen gelernt wie es ist, weü ich von den Luftpünktchen gezeigt bekam, daß wir es sind, daß die Menschen es sind, die durch ihr Tun entscheiden, ob sie der Tanz der Teüchen im AU gleichgültig lassen soll oder nicht. Wir sind es, die urteüen, und eine Kraft lebt in uns, die hüf t, die Geister zu scheiden in gute und solche, die uns nichts bedeuten. Wir sind es, die bestimmen können, und wer sonst sollte es tun?

Danach war Anna mit einem Mal sehr ruhig und glücklich. Stül und gelassen wandte sie sich um und ging langsam zurück zu ihrer Wohnung, zum unberührten Glas Rotwein. Noch während des Heimgehens erfaßte sie, daß das wohl die ersten Schritte sein könnten: in ein neues Leben.

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