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Die Krise der Sozialdemokratie

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In München findet dieser Tage der Parteitag der westdeutschen Sozialdemokraten statt. Die Richtungskämpfe beweisen: Die Sozialdemokratie steckt mitten drin in einer schweren Identitätskrise, nicht nur in der BRD. Prof. Leszek Kola-kowski analysiert Ursachen der Krise

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In München findet dieser Tage der Parteitag der westdeutschen Sozialdemokraten statt. Die Richtungskämpfe beweisen: Die Sozialdemokratie steckt mitten drin in einer schweren Identitätskrise, nicht nur in der BRD. Prof. Leszek Kola-kowski analysiert Ursachen der Krise

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Die großen politischen Ereignisse der vergangenen drei Jahre sind meines Erachtens als spektakuläre Symptome einer zunehmenden ideologischen Verunsicherung zu bewerten, die alle Bereiche des politischen Spektrums des Westen, die „rechten" ebenso wie die „linken", erfaßt hat.

In Wahlergebnissen drückt sich kein erkennbarer „Trend" aus; es gab in den letzten Jahren den Sieg der Tories in Großbritannien, den Sieg Präsident Reagans in den USA, den Sieg von Sozialisten in Frankreich (zu einem guten Teil verursacht durch den Niedergang der Kommunisten) und jetzt in Griechenland, die Niederlage von Sozialisten in Norwegen und Westberlin, die gewaltsame Spaltung der britischen Labour Party.

Bewegt sich die Welt heute „nach links" oder „nach rechts"? Diese Frage hat, wie ich wiederholen möchte, jeden erkennbaren Sinn verloren...

Alle traditionellen politischen Ideologien sind von einer schweren, vielleicht tödlichen Krankheit befallen, sind immer schwammiger geworden, immer weniger relevant für die brennenden Fragen unserer Zeit. Die politischen Identitäten von einst (denen zufolge man Kommunist, Sozialist, Liberaler, Anarchist oder Konservativer war) werden zwar noch durch eine Reihe von Phrasen definiert, doch lösen sich diese bei näherem Zusehen auf und erweisen sich entweder als bedeutungslos oder als nachweisbar konterproduktiv.

Unter den Opfern der generellen ideologischen Impotenz befindet sich unverkennbar auch die traditionelle sozialistische Idee. Wenn man ihre Anhänger nötigt, den Inhalt dieser Idee in allgemeinen Begriffen zu formulieren und nicht im speziellen Sinn aktueller internationaler Konflikte, stellt sich unweigerlich heraus, daß die sozialistische Idee auf ein- und dieselbe Universalmedizin für sämtliche menschlichen Probleme hinausläuft: Der Staat soll alles verstaatlichen.

Wenn man ihnen hart genug zusetzt, leugnen die Sozialisten nicht, daß dieses Rezept wiederholt tatsächlich angewendet wurde und aus naheliegenden Gründen, überall und ausnahmslos, in einen totalitären Despotismus mündete; aber sie werden nicht müde, zu beteuern, daß sie es selbstverständlich besser machen werden...

Was die sozialdemokratische Idee betrifft, so beobachten wir eine merkwürdige Geschichte dieses Wortes.

Es gab eine Zeit, in der es noch keine klare Unterscheidung zwischen einem Sozialisten und einem Sozialdemokraten gab. Die Partei Lenins nannte sich vor der russischen Revolution „sozialdemokratisch quot;, und in Polen trug der radikale Ableger der sozialistischen Bewegung, die Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauens, die direkte Vorläuferin der Kommunistischen Partei, dieselbe Bezeichnung.

Nach dem Ersten Weltkrieg, ja bis in die jüngste Zeit hinein definierten sich „Sozialisten" und „Sozialdemokraten" — insoweit diese Unterscheidung noch eine Bedeutung hatte — in klarer Abgrenzung gegen den kommunistischen Totalitarismus und unterstrichen ihre Bereitschaft zur Verteidigung demokratischer Institutionen und ihre Bindung an die durch die Expansion des Sowjetismus bedrohte europäische Kulturtradition.

Das ist jetzt anders. Man sieht das deutlich an der Politik der Sozialistischen Internationale, die in den letzten Jahren ihre Bemühungen darauf konzentriert hat, alles in der Welt zu unterstützen, was gerade „antiamerikanisch" (oder anti-israelisch) war, während sie peinlichst alles vermeidet, was vielleicht das Mißvergnügen der Herrscher im Sowjetreich erregen könnte...

Bei sozialistischen Kongressen begrüßt man die Delegierten der herrschenden Parteien aus kommunistischen Ländern (in denen die sozialistischen Bewegungen mit Polizeigewalt vernichtet worden sind) gelegentlich als „Brüder" und mitunter gar als „Genossen". Dadurch begann die Unterscheidung zwischen „Sozialisten" und „Sozialdemokraten" ihre alte Geltung zurückzugewinnen.

Die Sozialdemokratie behauptet nicht, „die Lösung" für sämtliche menschlichen Probleme zu besitzen oder das glückliche Vehikel einer allumfassenden und al-les-erklärenden Ideologie zu sein; sie ist kein universales Programm, das man in allen Teilen der Erde befolgen könnte. Sie ist eine Betrachtungsweise sozialer Fragen, die in meinen Augen auf einige sehr allgemeine Grundsätze negativer und positiver Art begrenzt ist:

# Unzweideutiges Eintreten für die demokratischen Werte einer offenen, verfassungsmäßigen Gesellschaft;

• unzweideutiges Eintreten für den Wohlfahrtsstaat, d. h. die Befürwortung eines Versicherungssystems in öffentlicher Regie, das grundlegende Bedürfnisse aller abdeckt;

copy; die klare Aussage, daß sowohl radikal liberale als auch totalitäre Lösungen schlimmer sind als die Übel, die sie zu heilen vorgeben; • Eintreten für die Verbreitung der Idee der Chancengleichheit durch Bildungsanstrengungen, nicht durch die Vermehrung polizeilicher Restriktionen und bürokratischer Herrschaft; O EintretenfürdieSachederGe-tretenen und Benachteiligten, der Alten und Kranken, der Armen und Unterdrückten, nicht aber für die Sache der Autoritären von morgen, die nur versuchen, das Establishment zu stürzen, um selbst die despotische Macht zu erringen.

Der Unterschied zwischen Sozialdemokratie und all jenen, die sich als die militanten Vertreter einer sozialen Linken definieren, sollte demnach klar sein.

Dies alles bedeutet nicht, daß die sozialdemokratische Idee selbst nicht von Zweideutigkeiten beeinträchtigt würde, und daß die Lösuqgen, die sie mit einer gewissen selbstkritischen Zuversicht anbietet, nicht selbst problematisch wären. Aber sie besitzt kein Dogma und verheißt kein tausendjähriges Reich...

Auszug aus der Analyse „Der sozialdemokratische Standpunkt , erschienen in der Zeitschrift „Der Monat", 1/82. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

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