6863720-1977_47_01.jpg
Digital In Arbeit

Die Krise wurde vertagt

Werbung
Werbung
Werbung

Es ist alles anders gekommen, als man vorher glaubte. Nachdem die Bonner Regierungsparteien FDP und SPD ihre Bundesparteitage in Kiel und Hamburg hinter sich haben, steht die Koalition weit gefestigter da als noch vor wenigen Monaten. Genau das Gegenteil war eigentlich erwartet worden. Im Sommer hatten sich die Probleme für die Regierung schier unüberwindlich angehäuft. Wirtschafts-, Energie- und Steuerpolitik, die innere Sicherheit - um nur die wichtigsten Spannungsfelder aufzuzählen - hatten nicht nur zu Reibungen zwischen den Koalitionspartnern geführt, sondern vor allem in den Parteien selbst. Im Bundestag verweigerten mehrere Abgeordnete der linken Parteiflügel der eigenen Regierung die Gefolgschaft in der Steuerpolitik und bei der Verabschiedung des Kontaktsperregesetzes für inhaftierte Terroristen.

Die Marschrichtung schien vorprogrammiert. In Kiel und in Hamburg sollte die Regierung endlich auf das festgelegt werden, was nicht nur Meinung der Linken im Bundestag, sondern offenbar - wie einige Landes- und Bezirksparteitage zeigten - auch Mehrheitsmeinungen in SPD und FDP waren. Insbesondere die Energiepolitik - Kernenergie ja oder nein - war hier zum Kernpunkt der innerparteilichen Auseinandersetzungen geworden.

Schmidt war entschlossen, seiner SPD deutlich zu machen, daß er nicht daran denke, sich an Parteitagsbeschlüsse gebunden zu fühlen, die er für falsch hält. Offenbar ist einem Großteil der SPD nicht geläufig, daß das Grundgesetz kein imperatives Mandat kennt, auch nicht das einer Partei an den eigenen, von ihr gestellten Kanzler. Die Richtlinien der Politik bestimmt der Bundeskanzler, er trägt dafür die Verantwortung. Eine solche „Kriegserklärung” an die Abweichler und ihre zahlreichen Sympathisanten in SPD und in FDP konnte Schmidt nur wagen, nachdem er das Abenteuer Mogadischu hinter sich gebracht hatte. Dieses Ereignis kennzeichnet auch die Wendemarke, von der an sich die Entwicklung umzukehren begann.

Den Vorreiter spielte die FDP. Ihr

Bundespa rteitag|Afang November in Kiel stand vor aen gleichen Problemen wie dann jener der SPD. Im Sommer hatte es noch ausgesehen, als sollte Kiel zur Zerreißprobe werden. Zwei verschiedene Parteikommissionen hatten zum Thema „Zukunft der Gesellschaft” zwei verschiedene Papiere erarbeitet. Die Wirtschaftskommission unter Leitung des damaligen Wirtschaftsministers Hans Friderichs legte ein klares Bekenntnis zur sozialen Marktwirtschaft ab und begründete die Notwendigkeit, dieses System auch weiterhin zu erhalten. Die „Perspektivkommission” unter dem progressiven Staatssekretär Gerhart Baum hingegen plädierte für mehr Staat und mehr Lenkung auf allen Ebenen.

Hier machte sich bemerkbar, daß zwei Seelen in der Brust der FDP wohnen, deren Vorstellungen vom liberalen Profil der Partei diametral verschieden sind. Daß die Gräben trotzdem nicht unüberwindbar wurden, ist das Verdienst des neuen Wirtschaftsministers Otto Graf Lambsdorff. Der kämpferische Aristokrat,

politisch auf der gleichen Linie wie sein Vorgänger, aber ungleich diplomatischer, schaffte mit einem Kompromißpapier, was niemand mehr für möglich gehalten hatte.

Die Zerreißprobe ist damit vorerst vertagt. Auch alle anderen Unebenheiten und allzu deutlichen linksideologischen Abweichungen bügelte der agile Graf je nach Bedarf mit Geduld oder Schärfe aus. Lambsdorffs größter Triumph: Die energiepolitischen Beschlüsse vom Sommer, in denen die FDP in Saarbrücken einen faktischen Baustopp für Kernkraftwerke gefordert hatte, wurden vollständig revidiert. In einer Uberrumpelungsaktion wurden die Delegierten vom Parteivorstand in Sachen innere Sicherheit auf Beschlüsse festgelegt, die vorher noch als „unverzeihliche Angriffe auf den Rechtsstaat” abgelehnt worden waren.

Eine sachliche Annäherung an die CDU ist nach Abschluß des Kieler Parteitages unverkennbar, auch wenn niemand der FDP-Chefs dieses so interpretiert sehen will. Immerhin, man hat Pflöcke eingeschlagen, die auch den Koalitionspartner SPD zu klaren Entscheidungen zwangen. Ging er nicht auf die Schwenkung der FDP ein, wäre die Regierungskoalition möglicherweise ins Wanken geraten. Vollzog er den fast schon radikalen Schwenk nach, schien ein innerparteilicher Bruch kaum vermeidbar.

Die SPD hat ihn vermieden, aber die Decke des Konsenses ist dünner geworden. Schmidts Stellung ist inzwischen zu stark, nur mit ihm kann die SPD derzeit Wahlen gewinnen. Hinzu kam, daß Schmidt zumindest bei der Energiepolitik den mächtigsten Bundesgenossen auf seiner Seite hat - den Gewerkschaftsbund. Wer von den linken Kadern da noch Lust verspürte, gegen die Kernenergie zu Felde zu ziehen - und dies taten die schleswig-holsteinischen Genossen immer noch intensiv -, isolierte sich offensichtlich von den Interessen der sonst immer als Alibi vorgeschobenen Arbeitnehmer.

Geschicktes Management und auch hartes Ringen im Sachlichen hinter den Kulissen, dazu ein nach außen fest zusarrimenstehendes Triumvirat, Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner, vollbrachten schließlich das Wunder, das niemand vorher erwarten konnte - die politischen Minen wurden entschärft, die Sachprobleme konsensfähig gemacht, indem vieles festgelegt, aber noch mehr offengelassen wurde. Ein neues Zauberwort als Trick: „Offenhalten von Optionen”.

Die wichtigste „Option”, die „offengehalten” werden konnte, war die Kernenergie. Hier kann die Bundesregierung künftig unbesorgt ihre Vorstellungen verwirklichen - bis sich in der Partei der nächste Sturm zusammenbraut. Dies wird er sicherlich, denn die klaffenden Gegensätze sind allenfalls verkleistert, aber nicht beseitigt worden. Bei allen Beschwörungen und Solidaritätsbekundungen ist nicht zu leugnen, daß sich die SPD in einer tiefen Identitätskrise befindet.

Dies markiert den Punkt, der zur Uberlebensfrage der SPD geworden ist. Die Krise dieser Partei rührt daher, daß die „Reformen”, mit denen Weichenstellungen in Richtung Sozialismus erfolgen sollen, von der Regierung Schmidt so gut wie überhaupt nicht in Angriff genommen werden. Die Reformeuphorie ist vorbei. So sind die linken Kader an ihrem Kanzler irre geworden, der nicht nur ein nüchterner Pragmatiker ist, sondern seiner Politik zudem ein anderes Grundwerteverständnis unterlegt als sie.

Jochen Steffen, Ziehvater der radi- ‘ kalen Linken in der SPD, hat daraus schon die Konsequenzen gezogen, indem er für eine neue sozialistische Partei von links wirbt. Sympathien dafür sind in weiten Kreisen der SPD sicher vorhanden. Aber die linken Genossen, die bei aller sonstigen ideologischen Vernebelung den Blick für die machtpolitischen Realitäten noch nicht verloren haben, wissen sehr genau, daß sie, falls sie die SPD verlassen, sich selbst zu politischer Wirkungslosigkeit verurteilen. Also versuchen sie weiterhin, die SPD von innen umzukrempeln - und das nicht ohne Erfolgsaussichten. Je mehr die Möglichkeit wächst, daß sich aus Um- weltschützem, Kernkraftgegnern und heimatlosen Sozialisten links von der SPD eine neue, „grüne Partei” etablieren könnte, desto mehr ist die Parteispitze bereit, den unzufriedenen Genossen Zugeständnisse zu machen. Damit allerdings ist auch der nächste Krach vorprogrammiert.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung