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Die Kultur läuft der Natur davon

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Das neue Buch von Konrad Lorenz (der erste von zwei geplanten Bänden) entstand aus demselben moralischen Impuls wie seine Warnschrift „Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit“: Unsere derzeitige Kultur ist von schweren Krankheiten, die gesamte Menschheit von Selbstzerstörung bedroht. Um sie abzuwehren, bedarf es eines naturwissenschaftlichen Menschenbildes, einer auf biologischer, auf stammesgeschichtlicher Einsicht beruhenden Erkenntnistheorie.

Das Lorenzsche Modell einer Naturgeschichte kognitiver Prozesse beruht auf der Überzeugung, daß die Welt der Objekte, die wir erkennen, unabhängig von unserem subjektiven Bewußtsein real existiert — Lorenz nennt eine solche erkenntnistheoretische Position hypothetischen Realismus. Sein Modell lehnt sich zugleich an Nicolai Hartmanns Theorie vom Schichtenbau der realen Welt an.

Trotz zahlreicher Gemeinsamkeiten mit naturgeschichtlich früher entstandenen Organismen ist der Mensch von allen Lebewesen fundamental unterschieden. Lorenz betont die Einzigartigkeit dieses neuen kognitiven Apparats stärker als in seinen früheren Büchern: Das geistige und damit das kulturelle Leben des Menschen ist eine neue Art von Leben überhaupt. Unser Zentralnervensystem vollbringt vorher unbekannte Leistungen der Verarbeitung und Speicherung von Information.

Auf der Basis dieser sicher unwiderleglichen Einsichten entwirft Lorenz sein Bild von der menschlichen Kultur. Deren Entwicklung verläuft seiner Ansicht nach wie die aller lebenden Systeme ohne präexistenten Plan. Kulturen entstehen nicht in linearer historischer Folge, nicht nach einheitlicher Gesetzlichkeit, sondern analog den Fulgura-tionen der phylogenetischen Evolution, also unabhängig voneinander und sozusagen zufällig.

Lorenz ist überzeugt, daß „die kognitive Leistung der Kultur, das Gewinnen und Anhäufen von Wissen, durch grundsätzlich analoge Vorgänge zustande kommt wie der Wissensgewinn der stammesgeschichtlichen Entwicklung“. Zwar muß man bei der Übertragung phylogenetischer Methoden auf die Kulturforschung immer bestimmte Unterschiede beachten, doch besteht eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen der Entstehung von biologischen Arten und von selbständigen Kulturen.

In allen Kulturentwicklungen, im gesamten menschlichen Verhalten sind, wie Ethologie und moderne Linguistik nachwiesen, phylogenetisch entstandene Programmierungen, angeborene Konstanten eingebaut, die resistent gegen kulturelle Einflüsse bleiben; ja, die Lebensfähigkeit einer Kultur (wie die einer Spezies) hängt entscheidend von der Ausgewogenheit zwischen invarianten und veränderlichen Elementen ab. Jede Kultur braucht feste Strukturen und Traditionen und zugleich die ständige Loslösung von ihnen; Stabilität wie Veränderlichkeit dürften stammensgeschichtlich vorprogrammiert sein, um die Anpassung an die sich ständig wandelnde Umwelt und das Gleichgewicht innerhalb des Systems zu garantieren.

Die Gefährdung der gegenwärtigen Menschheit zeigt sich in bedrohlichen Störungen dieses Gleichgewichts: die kulturelle Entwicklung geht um ein Vielfaches schneller vor sich als die evolutive, die kulturelle Entwicklung des Menschen droht seiner „Natur“ davonzulaufen. Wir sind in Gefahr, am allzu schnellen, ja am totalen Abbau aller Traditionen zugrunde zu gehen und so das Schicksal anderer Hochkulturen zu teilen: Die wachsende Diskrepanz zwischen angeborenen sozialen Normen und den Forderungen der Kultur führt, gerade auf dem Höhepunkt der Entwicklung, zu plötzlichem Zusammenbruch.

Schon dieser erste Band wird heftige Diskussionen auslösen. Man wird Lorenz Kulturpessimismus, Biologismus, Verwandtschaft zu Oswald Spengler vorwerfen; man wird sich, wie schon gegenüber früheren Publikationen führender Verhaltensforscher, ideologisch abschirmen, man wird höhnen und ignorieren. Ich möchte zu bedenken geben: Lorenz definiert nie klar, was er unter Kultur versteht. Meint er National-, Stammes-, Erdteil-, Klassen-, Epochenkulturen? Meint er alles zusammen? Was umfaßt Kultur für ihn — nur die im engeren Sinne kulturellen, die wissenschaftlichen und künstlerischen Aktivitäten, oder die Gesamtheit unserer Anstrengungen zur Weltbewältigung, also auch die Technologie?

Am Ende seines Buches versteigt sich der große Ethologe, in der Uberzeugung, nur eine auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen basierende Analyse könne den drohenden Menschheitsgefahren begegnen, zu einer kaum glaublichen, kursiv gedruckten Behauptung: „Ene reflektierende Selbsterforschung der menschlichen Kultur hat es nämlich bisher auf unserem Planeten nie gegeben.“ Dem widersprechen einige Jahrtausende Geschichte des menschlichen Geistes.

DIE RÜCKSEITE DES SPIEGELS. Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens, von Konrad Lorenz. R. Piper & Co. Verlag, 320 S., DM 34.—.

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