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Die Last der Geschichte

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Mitteleuropa ist „in“. Das ist gut so. Es ist gut, daß man sich gerade dort, wo zwei gewaltige, von unterschiedlichen Ideologien getragene Militärblöcke aneinander grenzen, auf eine gemeinsame Geschichte und Kultur, ja auf gemeinsame Interessen besinnt.

Unter den verschiedenen Mitteleuropa-Vorstellungen vor dem Ersten Weltkrieg spielten Pläne zur Schaffung einer mitteleuropäischen Zollvereinigung eine wichtige Rolle. Die Konzepte reichten von einem Zollbund, bei dem die Zölle zwischen den Mitgliedern herabgesetzt würden, bis zur Zollunion. Die Meinungen darüber waren aber durchaus geteilt.

Als etwa der Bruder des deutschen Kaisers, Herzog Ernst Günther zu Schleswig-Holstein, 1903 anfragte, ob er den Vorsitz des geplanten „Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins“ übernehmen sollte, antwortete das Auswärtige Amt in Berlin mit Zurückhaltung: Der Gedanke habe Bestechendes an sich, sei aber undurchführbar, da die Nationalitäten und Regierungsformen zu unterschiedlich wären. Außerdem sollte das Verhältnis zu Großbritannien nicht belastet werden.

“Ein Zollverein mit Österreich-Ungarn sollte die Grundlage für eine „Neugestaltung“ der wirtschaftlichen Verhältnisse in Mitteleuropa sein. Der Chef des „großen Generalstabes“, Erich von Flakenhayn, wollte schon während des Krieges einen mitteleuropäischen Staatenbund, Beth-mann-Hollweg war dagegen, da dadurch in den betroffenen Staaten eine „politische Beunruhigung“ hervorgerufen würde.

Aber noch im August 1918 erklärte Reichskanzler Georg Hert-ling dem deutschen Kaiser: Die Stärkung und Verankerung des Bündnisses der Mittelmächte würde zu einem mitteleuropäischen Block führen, wie ihn die Weltgeschichte noch nicht gesehen habe.

Die Mitteleuropa-Konzeption Friedrich Naumanns kann durchaus im Zusammenhang mit den Vorstellungen der Reichsleitung gesehen werden/Naumann befürwortete den Plan des österreichischen Nationalökonomen Eugen von Philippowich über einen mitteleuropäischen Zollverband. Seine, in seinem 1915 erschienenen Buch „Mitteleuropa“, dargelegten Überlegungen über ein Zusammengehen mit Österreich-Ungarn waren primär politisch motiviert.

Naumann war zur Uberzeugung gelangt, daß der Krieg nicht mit einem eindeutigen militärischen Sieg der Mittelmächte enden würde. Er wollte deshalb mit Hilfe eines mitteleuropäischen Staatenbundes das deutsche Gewicht bei künftigen Friedensverhandlungen erhöhen. Ein Mitteleuropa unter deutscher Führung könnte dies bewirken.

Karl Kautskys Schrift „Die Vereinigten Staaten Mitteleuropas“ war eine direkte Antwort auf Naumanns „Mitteleuropa“. Kautsky jedoch sah in den Mitteleuropa-Bestrebungen eine Art Kolonialpolitik zur Gewinnung von Einflußsphären.

Das Streben eines Großstaates nach einem Staatenbund sei nur ein Deckmantel für imperialistische Gelüste, weshalb Kautsky die bürgerlichen Mitteleuropa-Konzepte verurteilte.

Mitteleuropa, geeinigt unter deutscher Führung, gegen England und Amerika einerseits, gegen Rußland andererseits, politisch und wirtschaftlich gefestigt, sollte ein Grundpfeiler für das Gleichgewicht in Europa sein.

Der Begriff „Mitteleuropa“ war also tatsächlich in der entscheidenden historischen Phase des Ersten Weltkriegs mit deutschem Expansionismus und deutschem Streben nach Vorherrschaft verbunden. Auch im Zweiten Weltkrieg sollte die „Neuordnung Europas“ von einer deutschen Vorherrschaft in Mitteleuropa ausgehen.

Sollte aber der Begriff „Mitteleuropa“ deshalb nicht mehr gebraucht werden, weil er zu einer bestimmten Zeit mißbraucht wurde? Sollte man nicht durch ein neues Bekenntnis zu Mitteleuropa aufzeigen, daß man damit auch ganz andere Ziele verbinden kann: Friedliche Zusammenarbeit, Ausbau der persönlichen Kontakte, Kulturaustausch und wirtschaftliche Kooperation?

Die positive Tradition des Begriffs Mitteleuropa: Der Begriff „Mitteleuropa“ war jahrhundertelang durchaus positiv besetzt. So heißt es etwa im Sechsten Band der 1906 erschienenen Hel-molt- Weltgeschichte:

„Mit dem Worte .Mitteleuropa' wollen wir einen nicht allzu f ern-liegenden Begriff verbinden, der nicht nur ein Gegenstück zu .Osteuropa', sondern namentlich auch eine Art von Gegensatz zum Begriff .Westeuropa' darstellen soll. Wir meinen damit die kaum bestrittene Tatsache, daß man von einer westeuropäischen Kultur im eigentlichen Sinne erst nach dem Aufhören der Kreuzzüge reden kann. Was sich vorher aus Keimen, die teilweise noch das klassische Altertum belegt hatte, entfaltet hat, das bezeichnet man nicht uneben als .mitteleuropäisch' ... Was also nach dem Untergang der Kelten in gemeinsamer Arbeit der Romanen, Germanen und Slawen im Herzen Europas aufgebaut worden ist, das begreifen wir unter .Mitteleuropa' im historischen Sinne.“

Mitteleuropa als Ausdruck einer neuen Dimension internationaler Beziehungen: Wenn in der Vergangenheit internationale Beziehungen fast ausschließlich auf Beziehungen zwischen Staaten gegründet waren, die sich ihrerseits wiederum von der Staatsrai-son leiten ließen, so eröffnet heute eine Zusammenarbeit in Mitteleuropa ganz neue Perspektiven.

Nicht das, was den Staaten nützt, soll Gegenstand der Zusammenarbeit sein, sondern die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bürger: Erleichterungen im Reiseverkehr, Kulturaustausch auch auf kommunaler Ebene, Informationsfreiheit und wirtschaftliche Zusammenarbeit.

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