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Die leiseste aller Geburten

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„Einer wird den Ball aus der Hand der furchtbar Spielenden nehmen.“ So beginnt eines der scheuen Gedichte der Nelly Sachs, Nobelpreisträgerin 1966, ein Hoffnungslied, gewachsen aus biblischem Erbe. Es ist Abwandlung einer Verheißung im Prophetenbuch des Isaias, die einen Friedenskönig ankündigt. Er wird dem Volk das Joch abnehmen, heißt es da. Er wird den Stecken seiner Bedrücker zerbrechen und dröhnende Stiefel wie blutige Soldatenmäntel verbrennen. Seltsamerweise erscheint dieser König als ein Kind. Seit langem wird dieser Isaiastext in der christlichen Weihnachtsliturgie gelesen und so auf das Christuskind bezogen. Die christliche Kunst hat denn auch dieses Kind viele Male mit der Weltkugel als einem „Spielball“ dargestellt

Wenigstens einmal im Jahr wenden sich Christen, Kaum-noch-Christen und Noch-nicht-Christen diesem Kind zu, das versehen ist mit den Attributen der Machtlosigkeit: Geboren im Stall, angezeigt den Hirten als den Geringen im Lande und gerettet durch Flucht Zugleich aber erscheint dieses Kind mit dem paradoxen riesigen Anspruch, Gottes letztes Wort und aufgedecktes Antlitz, Gott im Kind und Gott als Kind zu sein. Diese Zuwendung zur Krippe gefährdet eingeübte Verhaltensmuster, stellt sie in Frage. In Frage steht dann das wie nur je furchtbare „Spiel der Mächtigen“ als Kriegsspiel, Spiel mit Tod und Teufel. In Frage stehen auch die gelangweilt bis todernst betriebenen „Spiele der Erwachsenen“ am Beispiel von Wolfgang Bauers „Magic afternoon“. Das Kind von Bethlehem wird, einmal erwachsen, erstaunten, ängstlichen, verdrossenen und bösartigen Erwachsenen sagen, sie bedürften einer Wiedergeburt, sie müßten werden wie Kinder. Andernfalls wären ihnen Weg und Pforte zum Himmel zu schmal.

Unzählige solcher Menschen gibt es. Sie fühlen sich kaum an einem Morgen wie neugeboren, geschweige denn sonst einmal. Sie haben das Kind in ihnen gekränkt zum Schweigen gebracht oder getötet. Wer müßte wohl kommen, damit das verschüttete Kind neuerlich begänne zu sprechen, zu lachen und zu singen? Wie stark müßte die Krise sein, die solch eine zweite Geburt auslösen könnte, von welcher Gestalt wären die Wehen? Es könnten individuelle Krisen in Krankheit, Liebe, in einem schöpferischen Prozeß sein. Es könnte sich aber ebenso um gesellschaftliche, ja epochale Krisen handeln.

Solcher Krisen gibt es heute genug. Der sie begleitende Schmerz wird häufiger als Symptom tödlicher Bedrohung gewertet, denn als Geburtswehen für Neues, Besseres. So sucht man denn auch diesen Schmerz nach Kräften abzuwehren mit Tranquilizern aller Art, seien es Pharmaka oder Ideologien. Aber die Absicherung vor dem Leiden um fast jeden Preis zerstört Menschen bis in ihre Wahrnehmungsorgane hinein, macht stumpf und dumpf. Man mag sich hier der poetischen Drohung Bert Brechts erinnern: „Wisse, wer einen Hilferuf nicht hört, sondern vorbeigeht, verstörten Ohres: nie mehr wird der hören den leisen Ruf des Liebsten noch im Morgengrauen die Amsel oder den wohligen Seufzer der erschöpften Weinpflücker beim Angelus.“ Solche um einen schrecklichen Preis überhörte Hilferufe kommen nicht nur von außen, sie können auch aufsteigen aus verschütteten Tiefen der eigenen Seele.

„Fürchte dich nicht!“ Dieser Anruf gehört zum Kern der Weihnachtsbotschaft. Man findet ihn noch einmal am Ende des Evangeliums als Wort des auferstandenen Christus an die Jünger. Solches Wort weist in die Mitte und Tiefe der christlichen Botschaft und gilt auch für heute. Niemand reicht aus, um für diese Epoche und das, was ihr nachfolgt, eine Diagnose und Prognose zu geben.

Manche Interpreten nehmen das Wort apokalyptisch in Anspruch, sogar dann, wenn sie Zustände und Gefahren nicht religiös deuten wollen. Die beständige Gefahr einer Selbstzerstörung der Menschheit durch einen atomaren Krieg gilt als stärkste Legitimation für einen solchen Sprachgebrauch, nicht zu reden von sonstigen ängstigenden Nachrichten, die dem Zeitgenossen beinahe täglich zukommen. Durch die Massenmedien nahm und nimmt man zudem wissend, wenn auch meist nicht fühlend Anteil an regionalen Apokalypsen, in denen einem ganzen Volk die Welt untergeht. Drohende Fragen der Technologie, der Ökonomie und in all dem der Ethik stehen an und werden weithin verdrängt. Aktive Hoffnung ist Mangelware. Bei offenen Augen und Ohren ist die gegenwärtige Lage der Menschheit eine riesige Versuchung zu Furcht, Aggression oder Gleichgültigkeit Viele halten es mit einer dieser Varianten.

Vor solchem erlebten und reflektierten Hintergrund hat Martin Heidegger in seinem nachgelassenen Interview für den „Spiegel“ als einer Art von Testament in Anlehnung an Hölderlin gesagt: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“

Andere Interpreten der globalen Situation wollen auf das Wort apokalyptisch verzichten. Sie halten das Angstmachende der Gegenwart für Geburtswehen, die eine bessere innerweltliche Zukunft heraufführen werden.

Welcher Deutung man sich auch zuwenden mag, Weihnachten 1976 erscheint hierzulande als „gewöhnliches“ Fest. Da ist nichts von der eindeutigen Not einer Kriegsweihnacht, die, wie Ältere sich erinnern, dennoch eine paradoxe Freude aufwecken konnte, was natürlich nicht als Plädoyer für schlechtere Zeiten gelten soll. Da ist auch nichts von einem Fest im Aufschwung eines Neubeginns. Nicht einmal Studenten sind zu bemerken, die wie vor Jahren noch, durch konsumkritische Aktionen gegen das Weihnachtsgeschäft Käufer wie Verkäufer ärgerlich bis nachdenklich stimmen wollten.

In der Kirche ist der Streit um jene Minimaltheologien, die die biblischen Weihnachtsberichte in den Bereich der Legende verweisen wollen, anscheinend wieder eingeschlafen. Die Spitzen der Emotionen scheinen allseits abgebrochen zu sein, nach oben zur Begeisterung hin wie nach unten zur Depression. Der Slogan vom Leben mit der Krise hat in der Sprache vieler sein Bürgerrecht erhalten. Solches ist dennoch nur Spitze eines Eisbergs. Dem zweiten Blick erschließt sich eine starke Unterströmung von Furcht, Angst, die besonders an der Schwelle zum neuen Jahr zur Sprache drängt.

„Wem glauben?“ betitelt sich das demnächst anlaufende zweite Studienprogramm über religiöse Fragen im ORF. Wem kann man glauben, wem trauen? In die Frage dieses Titels mündet alles bisher Gesagte schließlich ein. Man soll und darf zunächst sich selbst trauen oder besser dem Kind, das man gewesen und das, wenn vielleicht auch verschüttet, im eigenen Leben aufgehoben ist

In einer Gesellschaft, die vielstimmig den Verlust ihrer Fälligkeit zu trauern, feiern, lachen und beten beredet und beklagt, sollte man sich auf das von den Griechen überkommene Wort besinnen: „Ein Kind ist König“. Menschen, die das Kind in ihnen inthronisiert haben, es regieren lassen in Lachen, Weinen, Spielen und Sich-Anvertrauen - solche Menschen werden wohl auch begreifen können, was Franz von Assisi vor mehr als 700 Jahren getan hat, als er an Weihnachten in heiligem Spiel zum erstenmal eine Krippe aufstellte mit einem leibhaftigen Kind als Abbild jenes Christuskindes, das er längst in seinem Leben inthronisiert hatte. Solche Menschen werden schließlich auch glauben können, daß einer kommen wird, um den Ball aus der Hand der furchtbar Spielenden zu nehmen; daß er nicht nur nach Bethlehem kommen kann, sondern auch in ihr Herz. Die Gottesgeburt im Herzen des Menschen ist Thema der großen christlichen Mystik. Es ist die leiseste aller Geburten.

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