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Die Lichter brennen dunkler

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In den Weihnachts- und Neujahrstagen der vergangenen Jahre war es üblich, die Prachtstraße der Champs Elysees in ein Lichtermeer zu verwandeln. Auch die übrigen Pariser Stadtbezirke überboten einander bei der Installierung attraktiver Beleuchtungsanlagen. Selbstverständlich mußten auch die Bewohner der Seine-Metropole 1973 auf derartige Freuden verzichten. Aber bisher sind die Einschränkungen in Frankreich noch eher milde. Das Fernsehen flimmert seit dem 2. Jänner mir bis 23 Uhr, die Städte versinken eine Stunde früher in Dunkelheit und gelegentlich kommt es in der Provinz zu vorübergehenden Pannen bei der Heizölversorgung. Aber die Autos rollen an Sonn- und Feiertagen. Die Minister benützen jede Gelegenheit, um die konstruktive Politik der Regierung in das rechte Licht zu rücken. Einer geschickten Außenpolitik, die seit Jahren eine enge Freundschaft zu den arabischen Staaten kultiviert hat, sei es zu verdanken, daß auch künftighin in der Petroleumversorgung keine Engpässe auftreten werden. Die Fernsehzuschauer beäugen mit leichtem Gruseln die leeren Straßen in Holland, Belgien und in der Bundesrepublik, aber kein Franzose bricht in den Ruf aus: „Wie haben wir es doch gut!“ Eine kaum zu übersehende Unruhe hat die Bürger der V. Republik erfaßt. Man fühlt, daß ein Zeitalter zu Ende gegangen ist. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, beherrscht das Denken von Arbeitern und Angestellten. Daneben sind es politische und gesellschaftliche Momente, die, in drei Affären aufbrechend, dieses Unbehagen potenzieren.

Am 14. Dezember um 10.48 Uhr explodierte im Algerischen Generalkonsulat in Marseille eine schwere Bombe. Vier Tote und 22 Schwerverletzte, alles Algerier, waren die Opfer dieses Attentats. Handelte es sich um einen Protest gegen das öl-embargo der arabischen Staaten? War es das Signal eines fanatischen Rassenhasses, der sich seit Monaten in Frankreich, besonders aber an der Mittelmeerküste bemerkbar macht? Als im Sammer ein Mar-seiller Busschaffner durch einen irren Nordafrikaner ermordet wurde, kam es zu verschiedenen unerquicklichen Szenen, die sich zu Rassenkrawallen steigerten. Allein im Bereich von Marseille wurden 10 Lei chen von Immigranten gefunden, di( nachweisbar in die Hände europäi scher Extremisten gefallen waren Das Problem der 700.000 Algerier Marokkaner und Tunesier ist mi einem Zeitzünder zu vergleichen, de: nioht zu ticken aufhört. Die gegenwärtige Politik der Araber trägt da: Ihrige dazu bei, die einstigen weißer Siedler aus Nordafrika, die nach den Frieden von Evian in das Mutter land strömten, aufzureizen und dii Gegensätze zwischen den Moslem gruppen und der einheimischen Be völkerung zu verschärfen. In der französischen Städten bildeten siel riesige Ghettos. Versuche, die Immi granten zu assimilieren, sind fehl geschlagen. Die Behörden war sicherlich schlecht beraten, als sie zahlreiche Personen des Landes verwiesen, die als Sprecher arabischer Gemeinschaften auftraten.

Es gibt zwar ein Gesetz, das die Rassen'diskriminierunig verbietet, aber zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften bezichtigen in der rüdesten Form die Fremdarbeiter niedrigster Verbrechen. Untergrundbewegungen von Weißen veranstalten nicht nur Hetzjagden auf Araber. Eine Gruppe „Karl Martell“ rühmt sich des Attentats auf das Konsulat in Marseille und verspricht, sämtliche Algerier aus Frankreich zu vertreiben. Die gleiche Organisation soll auch die Entführung des libyschen Staatschefs Gaddafi geplant haben, als dieser kürzlich in Paris war.Sind die rassischen Leidenschaften im Steigen begriffen, so bedroht ein weiteres gesellschaftspolitisches Problem die empfindliche Einheit der Nation. Seit Monaten tobt die Diskussion um die Liberalisierung der Abtreibung. Sie hat im Dezember einen weiteren dramatischen Höhepunkt erreicht. Die Regierung legte dem Parlament einen Entwurf vor, der den Gesetzestext aus dem Jahre 1920 ablösen soll. Der Vorschlag des Kabinetts empfahl den Abgeordneten, die Schwangerschaftsunterbrechung in gewissen Fällen, wie Vergewaltigung, Blutschande oder bei Bedrohung der psychischen und physischen Gesundheit der werdenden Mutter, zu gestatten. Die Tragödie der geheimen Abtreibungen — während der Parlamentsdebatte wurden Zahlen von 500.000 bis zu einer Million genannt — berührt jeden, der den moralischen und gesundheitlichen Aspekt dieser Frage studiert. Die Linksparteien waren mit den Ideen der Regierung nicht einverstanden und verlangten die Erweiterung auf wirtschaftliche und soziale Indikationen. Die öffentliche Diskussion weitet sich nunmehr aus, christliche Organisationen richten heftige Angriffe gegen das Vorhaben der Regierung, die Tötung der Ungeborenen auch nur bedingungsweise zu legalisieren. Auf der anderen Seite kämpfen „linke“ Frauenbewegungen unter der Führung der streitbaren Staranwältin Gisele Halmini für das „Recht der Frau auf ihren Bauch“. Man muß in Frankreich leben, um die Intensität dieser Kontroversen in ihren Dimensionen richtig zu deuten. Am 14. Dezember 1973 verwarf die Kammer mit 255 gegen 212 Stimmen den Entwurf der Regierung und schob ihn zur neuerlichen Untersuchung der zuständigen Kommission zu. Mit anderen Worten: die Liberalisierung der Abtreibung ist vorläufig gestoppt. Die Presse der Linken überschlägt sich dabei in den heftigsten Anklagen gegen die „konservativen Volksvertreter“, die den Willen der Nation mit Füßen getreten hätten. Diese können jedoch darauf hinweisen,daß 12.000 Bürgermeister und Bezirkshauptleute, 12.000 praktische Ärzte, 400 Universitätsprofessoren, 3400 Richter, Staatsanwälte und sonstige Juristen geigen die Freigabe der

Schwangerschaftsunterbrechung protestiert haben. Die Befürworter der Liberalisierung weisen auf der anderen Seite darauf hin, daß im Pariser Parlament nur 8 Frauen Sitz und Stimme hätten, während es 52 Prozent Wählerinnen gebe. Man wird nicht fehlgehen, wenn man eine diesbezügliche Entscheidung im kommenden Jahr als eine der schwersten Belastungsproben der französischen Innenpolitik bezeichnet. Die Trennungslinie geht quer durch alle politischen Parteien.

Schließlich wurde die Affäre der in den Redaktionsräumen der satirischen Wochenzeitschrift „Le Canard Enchaine“ entdeckten Abhörmikrophone zu einer Regierungskrise hin-auiflizitiert. Ministerpräsident Mess-mer und der Generalsekretär der UDR hatten kurz nach der Entdek-kung den Verdacht geäußert, es handle sich um eine Inszenierung der Redaktion selbst, mit dem Ziel, das Kabinett zu diskreditieren und die Auflage der Zeitschrift in die Höhe zu treiben. „Le Canard Enchaine“ hat in der zweiten Nummer, nachdem eine Gruppe angeblicher Klempner während der Nacht in der Redaktion überrascht worden war, Namen leitender Beamter der Spionageabwehrorganisation DST publiziert, die an diesem Werk beteiligt gewesen sein sollen. Alle bisherigen Erklärungen der Regierung werden von der Opposition als nicht ausreichend empfunden, Erinnerungen an die Entführung des marokkanischen Oppositionsführers Ben Barka werden lebendig. Die Teilnahme eines anderen Geheimdienstes, S.D.E.C.E., an diesem rätselhaften Fall mußte nach längerem Zögern zugegeben werden. Am meisten betroffen ist der Innenminister Marcellus, der während einer Parlamentssitzung die sozialistische und kommunistische Fraktion beschuldigte, ein Komplott gegen ihn geschmiedet zu haben. Dieses französische Watergate erleuchtet blitzartig die Rivalitäten zwischen verschiedenen Geheimdienstorganisationen.

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