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Die Lust am Schmökern

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Die Österreichische Buchwoche (2. bis 9. November) macht auch auf den tieferen Sinn der Bücherproduktion aufmerksam.

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Die Österreichische Buchwoche (2. bis 9. November) macht auch auf den tieferen Sinn der Bücherproduktion aufmerksam.

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Tradition ist nicht nur eine Folge der Tatsache, daß eine unserer Lebensdimensionen die Zeit ist, und zwar nicht nur unsere eigene Zeit, sondern auch jener Strahl früherer Zeiten, der auf uns fällt. Tradition ist außerdem noch ein höchst imposantes Gebilde. Es läßt sich mit ihr Staat machen. Man kann sie vorzeigen. Man kann stolz sein darauf, daß man sie hat. Man kann sich auf sie berufen. Man kann sich an ihr berauschen. Man kann bei ihr Trost suchen. Kein Zufall, daß die Tradition eine Sie ist.

Soweit sie gedanklicher oder literarischer Natur ist, wird die Tradition in Büchern festgehalten. Schriftzeichen sind, mit den Inhalten verglichen, die sie vermitteln können, äußerst platzsparend. Sie sind verhältnismäßig leicht erlernbar und seit Gutenberg einfach reproduzierbar. Das Betrachten eines Bildes kann uns Informationen vermitteln und unsere Emotionen in Bewegung setzen. Das Lesen bietet uns die Möglichkeit, uns die Inhalte selbst vorzustellen, die vermittelte Botschaft selbst in Bilder zu verwandeln, und zwar in Bilder der eigenen Phantasie.

Man kann seit ungefähr hundert Jahren die Bilder allerdings auch bewegen. Ihre Abfolge ergibt Filme. Die Engländer werden der Sache gerecht, wenn sie mo-ving pictures sagen. Bilder, die sich bewegen, haben mitunter eine ganz eigenartige, starke und bezaubernde Wirkung. Ihre Eigenart erweist sich aber, mit der Natur der Schriftzeichen verglichen, auch als Nachteil. Schriftzeichen sind unbeweglich. Sie sind den Bedürfnissen des Lesers ausgeliefert.

Die Abfolge der moving pictures läßt eine'Unterbrechung nur an ganz bestimmten Punkten der Bildkomposition zu. Bücher kann man nach Lust und Laune zuklappen. In Büchern kann man nachblättern — und zwar ohne Zuhilfenahme komplizierter Apparate.

Deshalb kann das Buch durch Film und Fernsehen nicht verdrängt werden. Es ist geistig und technisch praktischer.

Das Buch hat aber auch noch andere wohltuende Besonderheiten. Man kann seinen Schutzumschlag betrachten. Man kann mit den Fingerkuppen über das Leinengewebe des Einbandes streichen. Man kann sich über den Typ der Buchstaben und über ein ausgewogenes Satzbild erfreuen. Man kann die Unterschiedlichkeit der diversen Papiersorten genießen, die kleinen Eigenheiten der graphischen Gestaltung, das kaum hörbare Knistern des Papiers beim Blättern.

Schutzumschlag, Druck, Bindearbeit und Papier ergeben gemeinsam ein harmonisches Zeichensystem und dieses System ist voller Versprechungen. Das Betrachten eines Buches erweckt die Hoffnung auf ein geistiges Abenteuer. Ein lange herbeigesehntes, frisch erstandenes oder vom Bibliothekar eben erst überreichtes Buch aufzuschlagen ist ein besonderes, mit keinem anderen Glück vergleichbares Vergnügen.

Das Buch setzt aber auch die Erinnerung in freudige Bewegung. Der Name des Autors ist uns aus einem lange zurückliegenden Gespräch vertraut, und wir^verbin-den ihn unwillkürlich mit der Atmosphäre jenes Gesprächs. Oder wir haben ein ähnliches Buch irgendwo irgendeinmal bereits gesehen: auf dem Tisch eines Onkels, in der Hand eines Mädchens in der Straßenbahn, im Bücherschrank eines unserer Lehrer. Und plötzlich wird auch das gerade erst erblickte Buch mit der Aura jener Begegnung umgeben: die lebendige Gestalt des Onkels gibt dem Buch eine ganz bestimmte Bedeutung, die schönen Hände des Mädchens in der Straßenbahn erinnern an einen Augenblick der flüchtigen Verliebtheit, der Bücherschrank des Lehrers ruft die Schulzeit — als ein einziges Traumbild — ins Gedächtnis.

Bücher kann man außerdem auch noch riechen. Ein Buch, das die Buchbinderei erst kürzlich verlassen hat, duftet noch nach Druckerschwärze und nach frischem Papier. Aber auch der Staubgeruch alter Bücher kann manche Leser erfreuen. Nicht nur ihr Bewußtsein sagt ihnen, daß sich mit dem alten Buch bereits viele Generationen beschäftigt haben; der Geruchsinn gibt dem blassen Wissen in der Tat sinnliche Kraft.

Ein besonderes Ereignis ist es zudem, in einem alten Buch manche von fremder Hand stammende Randbemerkungen zu entdek-ken. Sie geben uns die Möglichkeit, den Gedanken eines längst dahingegangenen Lesers zu folgen, unserem Vorgänger zu widersprechen oder über seinen Scharfsinn zu staunen.

Das Buch beschert uns aber auch noch eine weitere Freude. Wir müssen ihm zuliebe eine Buchhandlung oder eine Bibliothek besuchen. Solche Lokalitäten sind Lebensbereiche der geballten Poesie, deren starken Zauber wir nur dank der Sachlichkeit all der Buchhändler und Bibliothekare ertragen.

Diese Sachlichkeit entspringt auch manchen — vor allem zeitbedingten — Sorgen. Die Buchhändler klagen heutzutage über die hohen Porti und Telefonspesen und über die an sich verständliche Vorliebe des Publikums für billige Taschenbücher. Das Buch ist auch Ware. Jedes Taschenbuch will einzeln, sorgfältig, von entsprechenden Ratschlägen begleitet verkauft sein, doch macht sich die Mühe — in Geld umgerechnet — kaum bezahlt. Die Folgerung ist logisch. Sie heißt: Selbstbedienung.

Die Klagen der Bibliothekare berühren unmittelbar den Bereich der Politik. Die Geldmittel der öffentlichen Bibliotheken wurden in den letzten Jahren nicht erhöht. Da die Preise steigen, sinkt die Zahl der angeschafften Bücher. Wenn es so weitergeht, muß der Bücherbestand der Bibliotheken verkümmern. Die Leidtragenden sind jene Leser, die nur wenige neue Bücher kaufen können: die Armen und die Studenten.

Das Buch an sich, dieser vielblättrige Gegenstand, inhaltsschwer und doch handlich, gediegen und wohlriechend, durch Hoffnungen und Erinnerungen gleichermaßen verlockend, bleibt von solchen ökonomisch bedingten Sorgen freilich unberührt. Im Buch träumt die Menschheit von sich selbst und für sich selbst. Alle Druckzeilen aller Bücher ergeben, aneinandergereiht, eine einzige, für den einzelnen unentzifferbare Botschaft. Jedes Buch, selbst das dümmste, gibt uns die beglückende Hoffnung, wenigstens ein Fragment dieser Botschaft zu enträtseln.

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