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Die Lutherische Kirche im sozialistischen Staat

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Eine Delegation der Lutherischen Kirche Ungarns besuchte unter Führung von Bischof Zoltän Käldy kürzlich auf Einladung von Bischof Oskar Sakrausky die Lutherische Kirche Österreichs. Ihre Mitglieder sprechen ein Deutsch mit dem uns Österreicher so sympathischen ungarischen Akzent. Es klingt so heimatlich. Und doch, vieles ist heute anders, vieles ist uns fremd.

So berichtet Bischof Käldy über das Leben der Lutherischen Kirche und ihr Verhältnis zum Staat. Die Lutherische Kirche Ungarns zählt zirka 420.000 Mitglieder, sie ist ungefähr so groß wie ihre österreichische Schwesterkirche. Allerdings: Genaue Angaben könne man nicht machen, denn Kirchensteuer wird nicht eingehoben, Ein- und Austritte werden nicht registriert, die Gottesdienste sind gut besucht, und der Dienst der Kirche bei Taufen, Trauungen und Begräbnissen wird häufig in Anspruch genommen. Bischof Käldy ist, wie er betonte, auf Grund einer Personalwahl im 17. Gemeindebezirk von Budapest unabhängiger Parlamentsabgeordneter und erhebt, wenn nötig, immer seine Stimme für die christliche Bevölkerung. Leider, so sagte Käldy, gäbe es im Ausland zahllose negative Nachrichten über die Ungarisch-Lutherische Kirche, wie etwa, die Kirche könne in der sozialistischen Gesellschaft nicht existieren, denn es gebe keine Religionsfreiheit, die Gotteshäuser seien geschlossen, die Kirche verfüge über keine Presse und könne im Rundfunk nicht verkündigen und die Menschen könnten nur unter argen Schwierigkeiten in die Kirche kommen.

Bischof Käldy unterstrich, daß bereits die Frage, wer Jesus Christus sei, in der sozialistischen Gesellschaft erstrangig ist. Denn „gerade in dieser Gesellschaftsordnung haben wir Jesus Christus als einen Mächtigen erkannt, und mit der Liebe, die wir erfahren haben, müssen wir in der Gesellschaft tätig sein“. Die Ungarisch- Lutherische Kirche ist in die sozialistische Gesellschaft hineingestellt; es war für sie oft schwierig. Es mag sein, daß es Zeiten gegeben hat, in denen die Ungarisch-Lutherische Kirche vielleicht nur soziale Ethik betrieben hat. Heute aber sei das Gleichgewicht wiederhergestellt, und die Lutherische Kirche Ungarns stehe in der Gesellschaft noch auf eigenen Füßen. „Wir vertreten“, sagte Käldy, „eine Ethik,

die nicht auf der marxistisch-leninistischen Ideologie basiert, sondern allein auf dem Evangelium.“ Die Ungarisch-Lutherische Kirche untermauere mit dem Evangelium nicht die Staatsideologie. Die Kommunisten brauchten dies nicht, wie sie selbst sagen. „Was wir tun, ist eine freie Entscheidung der Kirche. Wir leben in der sozialistischen Gesellschaft und sind auch bereit, zum Wohle der Menschen, auch zum weltlichen Wohl, beizutragen.“

Wolle man aber das Verhältnis der Lutherischen Kirche verstehen, müsse man die Situation des ungarischen Volkes zwischen den beiden Weltkriegen kennen. Damals sei die soziale Ungerechtigkeit sehr groß gewesen, drei Millionen Menschen lebten wie Bettler, erzählt Käldy. Die Reformierten versuchten, die Katholische Kirche an Macht einzuholen, waren aber erfolglos. Der Reichsverweser Horthy war ein reformierter Christ, seine Frau eine strenge Katholikin. Der Primas von Ungarn übte über Frau Horthy großen Einfluß aus. 1945 sind, wie Bischof Käldy sagt, die Kommunisten zur Macht gelangt, „und sie sind nicht mit Handschuhen umgegangen. Wir haben eine wirkliche marxistisch-leninistische Revolution erlebt“.

Die Freiheit und Gleichberechtigung der Lutherischen Kirche sei jetzt größer als früher, aber auch andere Konfessionen „wurden durch die Kommunisten gleichberechtigt, wie etwa die Baptisten, die Methodisten und viele andere.“ Sie alle haben Freiheiten bekommen, die sie früher nie hatten. Die Gleichberechtigung der Konfessionen bestehe heute in der individuellen Freiheit der Kirchen.

Es habe wohl in früheren Zeiten Verstöße gegen die Religionsfreiheit gegeben, jetzt käme es dazu nur selten. Katholiken, Reformierte, Lutheraner und Orthodoxe können im Ungarischen Rundfunk verkündigen und frei reden. „Sie haben keine Begrenzungen, natürlich dürfen wir die Fundamente der sozialistischen Gesellschaft nicht angreifen“, betonte Bischof Käldy.

Manche der Äußerungen des Nachbarbischofs stimmen uns nachdenklich. Besonders, wenn man die doppelte Bedeutung der Begrifflichkeiten hüben und drüben bedenkt.

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