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Die „Märtyrer“ der Revolution

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„Das Verschweigen von Tatsachen ist die Krankheit Nummer eins der Geschichtsschreibung und des Geschichtsbewußtseins der Gesellschaft. In den nächsten Jahren müssen wir uns von dieser Krankheit befreien. Wir brauchen- die volle Wahrheit.“ So schrieb vor kurzem „Prawda“-Chefredakteur Wiktor Af anasjew im Zusammenhang mit der Vergangenheitsbewältigung, die in der UdSSR vor einigen Monaten mit jener berühmten Rede Michail Gorbatschows eingesetzt hat, in der der Parteichef eindeutig mit dem Terror Stalins abrechnete.

Kurz darauf würdigte der Historiker und Chefredakteur der Tageszeitung „Moskowskije No-wosti“, Jegor Jakowlew, den am 26. Oktober 1917 in St. Petersburg entstandenen Rat der Volkskommissare, deren Mitglieder er als „Helden und Märtyrer der Revolution“ bezeichnete. Neun von den zwölf Mitgliedern dieses Gremiums „verdanken“ ihr Märtyrer-tum Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili, genannt Stalin, der sie im Laufe der folgenden Jahre hinrichten ließ.

Ihr Name wurde je nach Bedarf der gerade gültigen Propaganda verteufelt oder verschwiegen. An der Spitze der Liste der unerwünschten Personen der sowjetischen Geschichtsschreibung stand bis vor kurzem der einst zum Erzfeind des Sozialismus und Stifter einer weltweiten Verschwörergruppe dämonisierte Lew Dawidowitsch Trotzkij, der 1940 von einem Agenten Stalins im mexikanischen Exil ermordet wurde.

Als einer der bedeutendsten Mitwirkenden der Machtergreifung, als Organisator der Roten Armee und als erster Außenminister des Sowjetstaates war Trotzkij auch Erfinder und praktischer Ausführender zahlreicher Theorien, wie zum Beispiel der Militarisierung der Arbeit, mit deren Hilfe der direkte Ubergang im unterentwickelten Agrarstaat zum Sozialismus gesichert werden sollte. Sein Beitrag zur Errichtung und Festigung des bolschewistischen Systems ist genauso unbestritten wie der von Lew Bo-rissowitsch Kamenew, dem Vorsitzenden des Moskauer Sowjets und Stellvertreter Lenins im Rat der Volkskommissare.

Zusammen mit Grigorij Jewse-jetitsch Sinowjew, dem Leiter des Petrograder Sowjets und der Dritten Internationale, gehörten diese Männer zu den zuverlässigsten Anhängern Lenins. Im Falle eines „normalen“ Verlaufs der Ereignisse wären sie als natürliche Thronfolger in Frage gekommen. Sie und ihre Anhänger aus dem Wege zu räumen, galt als unerläßliche Voraussetzung für die Sicherstellung des Sieges von Stalin.

Sinowjew und Kamenew lag allerdings so viel an der eigenen Macht, daß sie keine Sekunde zögerten, einander in der Preisgabe ihres einstigen Gönners zu überbieten. Als Lenins Testament, in dem der Verstorbene die Partei vor Stalin warnte, im ZK vorgelesen wurde, war es Sinowjew, der in einem Lobgesang an den Georgier Stalin die Befürchtungen des toten Bolschewistenführers als „unbegründet“ bezeichnete.

Kamenew pflichtete ihm, wie abgesprochen, bei. Allerdings verlangten sie drei Jahre später, im Herbst 1927, vergebens die Veröffentlichung des Testaments. Ihrer Ämter enthoben, wurden sie aus dem ZK ausgeschlossen und isoliert. All die, die loyal zu ihnen standen, verloren ihre Stellungen.

Der Urteilsspruch erfolgte 1936 im ersten großen Schauprozeß, in dem alle 16 Angeklagten bereitwillig ihre Schuld als Mitglieder der „weltweiten Verschwörergruppe“ des bereits aus der UdSSR verbannten Trotzkij zugaben und um die Höchststrafe flehten. In den bis 1938 folgenden „Prozessen“ wurden weitere Todesurteile über einstige Politiker verkündet: über das frühere Mitglied des Leninschen Politbüros Nikolaj Bucharin und über Alexej Rykow, der von 1924 bis 1930 Lenins Nachfolger als Präsident des Rates der Volkskommissare gewesen war.

Wenn es jetzt in der UdSSR um Rehabilitierungen geht, sollte das nur der Beginn eines Prozesses sein, in dem die wirkliche Rolle der einst dämonisierten, dann zu Tode geschwiegenen Architekten des Systems geklärt wird. Die Gefahr, daß nach der Revolution nunmehr die Rehabilitierung ihre Kinder frißt, ist noch nicht gebannt.

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