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Die Mauer im Kopf bleibt noch

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Berlin im Mai ist diesmal sehr kalt. Auch die Stimmung ist frostig. Manche Berliner werden von der Berlinmüdigkeit erfaßt: „Am liebsten möcht ich weg”, sagt einer, „einmal in Westdeutschland arbeiten.” Und eine Sekretärin erzählt, sie sei nur ein- oder zweimal „drüben” gewesen.

Die Mauer ist gefallen, man spaziert über den Checkpoint-Charly ohne Kontrolle „hinüber” - aber die Friedrichstraße ist noch immer nicht eine Straße, obwohl sie nun nicht mehr durch die Mauer getrennt ist. Die Mauer im Kopf ist noch da. Deutschland ist vereint, aber die Menschen leben sich auseinander. Und in Berlin wird das manchmal auf eine erschreckende Weise spürbar. Das ist nicht Ungeduld oder Abneigung - das ist blanker Haß, der da gegen die „Ossis” aufbricht. Sie, so hört man, hätten nichts anderes zu tun gehabt, als sich um das 1:1 umgetauschte Geld gleich ein Auto zu kaufen, sie hätten kein richtiges Arbeitsethos, sie seien anspruchsvoll ohne Leistungswillen. Im Ostteil der Stadt klagen die Menschen über die Besserwisserei der „Wessis”, über die menschliche Kälte.

Und die Lage wird sich, zumindest mittelfristig, noch verschlechtem: Bis Herbst wird es in der ehemaligen DDR rund drei Millionen Arbeitslose geben.

Die Situation im vereinten Deutschland verdient deshalb besondere Beachtung, weil sie zeigt, wie schwierig der Weg zum gemeinsamen Europa noch sein wird. Denn in Deutschland sind die Voraussetzungen für eine Überwindung der Probleme noch immer am günstigsten.

Auch hier aber sollte man Mentalitätsunterschiede nicht unterschätzen, die in der ehemaligen DDR durch mehr als 40 Jahre Kommunismus noch verschärft werden. Willy Brandt erzählt in seinen „Erinnerungen”, daß zum Beispiel dem Rheinländer Konrad Adenauer der deutsche Osten fremd gewesen sei. Als dieser vor 1933 Präsident des Preußischen Staatsrats gewesen war, habe er im Zug nach Berlin immer das Gefühl gehabt, hinter der Elbe höre Europa auf. Ab Magdeburg zog Adenauer die Vorhänge zu, „damit ich die asiatische Steppe nicht sehen mußte”. Auch im „heidnischen” Berlin fühlte er sich nicht zu Hause. Dabei mag sicher die Tatsache eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben, daß dort, in Sachsen und sonstwo, nicht „schwarz”, sondern eher „rot” gewählt wurde.

Deutschland ist wiedervereinigt, aber die Euphorie war nur kurz. Und wie in diesem Deutschland die politische Landschaft künftig aussehen wird, das ist höchst ungewiß.

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