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Die Menschen simulieren, daß sie Erwachsene sind...

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Wie sonderbar, daß unsere kostbarste und älteste Nahrung geschmacklos ist: che Milch und das Brot. — Die Unentbehrlichkeit des Brotes, dieses Mysterium, beschäftigt mich seit meiner Kindheit. Ais käme es tatsächlich aus Gottes Hand!

Der orientalische Mensch mochte ein kalter und gleichgültiger Beobachter der kalten und gleichgültigen Natur sein. Dieses Bestreben kann zu keiner Philosophie führen. Es ist, wie wenn das Wasser den Himmel widerspiegelt — oder wenn zwei Spiegel, einander gegenüber aufgestellt, zwar die Endlosigkeit spiegeln, diese aber dadurch nicht verständlicher machen. Wie können die Erscheinungen von den verschiedenen Typen der Leidenschaft begriffen werden, von den Sanguinikern oder von den Phlegmatikern — für mich kann Philosophie nur in dieser Frage liegen.

Totengräber: Er widmet sein ganzes Leben den Toten, sein Leben dient den Nicht-Lebenden — und nicht dazu, etwas hervorzubringen. Und wie viele gibt es von dieser Sorte! Wenn ich mich umsehe und wenn ich zusammenzählen möchte, wer von uns irgend etwas hervorbringt, wessen Leben nicht vergeblich ist — kann ich kaum einen finden. Es scheint offensichtlich zu sein, daß ein neues Produktionssystem kommen muß, das die Kräfte des Menschen zur wirklichen Produktivität hinleiten kann... •

Der dumme Mensch, wenn er zugleich ein Gelehrter ist, schadet seinen Mitmenschen viel mehr, als wenn er in der Einfachheit seiner unentwickelten Dummheit verblieben wäre. Je mehr er sich bildet, um so schädlicher wird er. Und wie viele gibt es, die, vom Ehrgeiz getrieben,

sich mit den Wissenschaften abquälen. Ich habe noch keinen gesehen, der sich so lange gequält hat, bis er gescheit geworden ist.

Das Lebensgefühl der Blumen: wie das eines schlafenden Menschen, auf den die Sonne scheint.

Zum Schreiben braucht man eine leichte Hand — schneidig und bravourös wie ein Husar durch das Wirrwarr des Wissens durchzusprengen — und man braucht ein Herz: vieles wegzulassen, sehr vieles, viel schönen Marmor in Splitter zu schlagen, und dann eine Figur auszumeißeln, die uns fühlen läßt: sie mag zwar klein sein, aber sie ist aus einer großen Masse hervorgegangen.

Ich kann zusammenfassen, was ich bisher über die Kunst gedacht habe — also: Du bist Künstler, weil du aussagen willst, weil du mitteilen mußt, was dich leiden macht und was dich zum Jubeln bringt in den seltenen Augenblicken der Freude — so bist du nun einmal beschaffen. Du mußt dein Gewissen zur Konfrontation bringen: du mußt beichten, dann wird dir die Absolution zuteil. Und dann: du verteidigst dich gegen den Tod. Die Tatsache, daß du lebst und die Art, in der du lebst, alle deine Freuden und Traurigkeiten sind aus dem Prinzip des Todes hervorgegangen — es ist das Schicksal des Menschen, sich nach dem Unerreichbaren, nach dem Unerhoff-barem zu sehnen — du willst die Minute festhalten: daß du gelebt hast und was du gesehen hast — denn alles vergeht. — Warum muß man die Wahrheit suchen, wenn sie existiert, und warum kann man sie nur so schwer finden: seitdem die Welt besteht, seufzt du nach ihr in milliardenfacher Form — du umtanzt sie. Und eine Narkose brauchst du, ein Schlafmittel, um dir einbilden zu können, daß du nicht so unglücklich gewesen bist: du kannst dadurch deine Erlebnisse korrigieren. — Und so bist du Künstler geworden: du wolltest der Welt, die dich nicht bemerken wollte, zeigen, daß du bist und daß du besiser bist.

Die westliche Literatur: andauernde Selbstbezichtigung, Beichte, Geständnis, Konfrontation ... Die orientalische Literatur: — In die Sonne schauen! (Mit heiterem, schönem Blick.)

Ohne irgendeine tiefe Andacht ist Kultur unvorstellbar. — Die überzeugungslose Welt der westlichen Kulturen (das oberflächliche Durcheinander der „realistischen“ Betrachtungsweise): — was soll denn das jener tiefen geistigen Einheit gegenüber, die den Orient umfängt? Der Buddhismus ist die Religion der Ungläubigkeit und doch: wie tief andächtig ist sie doch! — Aber, weiter: auch in mir selbst fängt die tiefere und wertvollere Kultiviertheit an dem Punkt an, an dem ich jenseits all meiner Illusionslosigkeit und Hoffnungslosigkeit alle Tage und alle Nächte — trotz allem an dich denken und dich bewundern muß: Einheit!

Was ist der Dadaismus? Die Darstellung dessen, daß das Leben keinen Sinn hat... Und daß es also auch keine Ordnung hat und keine Logik ... Wenn aber dieser Dadaismus gerechtfertigt werden sollte, dann müßten die Künstler und das Publikum an Ort und Stelle aufhören, weiter zu existieren ... Denn solange sie existieren, sind sie ja auch zugleich die Produkte einer gewissen Ordnung ... (Denn in dieser Unordnung sind immerhin sichtbare Zeichen der Ordnung und der logischen Anordnung wahrzunehmen ...) — Unsere Existenz ist für die Ordnung ebenso ein Beweis wie für die Unordnung... Der Dadaismus — eine frustrierte Bestrebung.

Alte Weiblein, die einander fortwährend immer nur lauter Gemeinplätze sagen: das klingt dann ungefähr so wie zum Beispiel die Grabinschriften ... — Also sagen Sie? Lohnt es sich, gut zu sein? — Oder: Die Eltern, die sind immer gut, nur die Kinder, die sind immer

schlecht... Oder: Ein Vater sorgt für zehn Kinder, aber zehn Kinder sorgen nicht für einen einzigen Vater ... Und das sagen sie zueinander mit derartiger Überzeugung, und nicken dazu auch noch, so als hätten sie. gerade gemeinsam eine niemals gehörte Neuigkeit entdeckt.

Die Menschen simulieren, daß sie Erwachsene sind, und dabei bleiben sie ja Kinder ein ganzes Leben lang... Vor Fremden verstellen sie sich: sie sind würdig, sie sind vor-

nehm ... Und doch sind sie demjenigen dankbar, der sie von dieser ewigen Plage befreit... weil sie sich nicht dafür schämen müssen, daß sie Kinder sind ... Weil er zu ihnen in einer Art und Weise sprechen kann, daß sie ihre angenommenen Lügen vergessen... — Das ist die Sache der Künstler. Und deshalb werden die Künstler von den Menschen geliebt. — Im Theater zum Beispiel fühlen sie sich entlarvt, und diese Entlarvung bereitet- ihnen Freude. — Dort schreiten sie dahin, dort, auf der Straße, mit ernsten Gesichtern ... wenn du sie ansprichst, sind sie höflich... Und tief in ihrer Seele tragen sie alle eine große und für sie selbst heilige Erinnerung mit sich: die Erinnerung an ihre Kindheit ... An eine merkwürdige Kindheit, die auf dieser ganzen großen Welt nur ihnen allein zuteil geworden ist... — Und wenn zwei von ihnen zueinander finden, zum Beispiel Ehemann und Ehefrau: welch eine schwere große Arbeit ist es für beide, gegenseitig so viel Vertrauen füreinander zu erwecken, daß sie sich voreinander arglos als Kinder entpuppen können.

Diese Psychoanalytiker! — Wie die Kinder! Sie wissen alles ganz sicher.

Der Mond: fiebrig und trüb wie der Blick eines kranken Kindes. Man kann ihm ansehen, daß er einen heißen Tag hinter sich hat und übel gelaunt ist. — Finstere Dämpfe um-quallen ihn. Sein Gesicht ist düster, blutunterlaufen, dunkel und luftlos nach Atem ringend... fast blutet es. Geschwollen und schmollend taucht es unter hinter den Bergen.

Bach war' kein Erneuerer, Shakespeare war auch keiner. Beide sind Vollendungen, und zwar konservative Vollendungen eines vorhandenen Stiles. Beide haben so gelebt, daß sie sich nicht bewußt waren, wie bedeutend es ist, was sie erschaffen ... und also: sie konnten arbeiten, ohne die belastende Verantwortung der Größe zu spüren. Keiner von ihnen wollte Großes schaffen: — eher ein kleines Etwas, das sich für den Vortrag eignen wür-

de... etwas, das den Anforderungen entspricht.

Die vorzüglichste Reportage ist jene Art von Text der imstande ist, die Illusion zu wecken, er hätte etwas mit Kunst zu tun ... und sehr viele Prosaschriftsteller, für die das Beobachten ihr ein und alles ist, können auch gar nichts anderes. — Sie nähern sich den Dingen von außen her, sie sind keine schöpferischen Geister. Wenn jemand etwas erschafft, dann erschafft er es aus sich selbst, für ihn ist die Beobachtung nur ein Hilfsmittel... er verwendet es, um schöpferisch sein zu können.

Er hat Nierenkoliken, schreckliche Schmerzen. Und er denkt sich währenddessen, er sei den Torturen der Inquisition unterworfen — und er spielt sich, das auch noch vor. — Ich gestehe nicht, nein, nein, nein! — redet er inmitten der schrecklichsten Qualen in die Nacht hinein. — Und ich werde doch nicht gestehen — sagt er und so spielt er mit den eigenen Leiden. Ja, wahrhaftig: so ist der Mensch.

Ein fünfzigjähriger Mensch, der in jeder Hinsicht ein genauso großer Esel und genauso fehlbar ist wie mit zwanzig Jahren. Das bin ich.

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